Tag Archives: Mutter (Elisabeth)

Meine Mutter. Das Werkzeug ihres Vaters, der sie mit seinen Stärkeversprechungen in seiner Gewalt hatte.

Nachdem ich genug gesehen hatte

Irgendwann sagt der kleine Junge: “Ich habe genug gesehen.”

Nachdem es endlich alles vorbei war und er endlich in die Welt hinaus konnte, ohne dass einer hinter ihm her war: Ohne dass ihm der Großvater sein Leben stehlen wollte, weil er selbst keines gehabt hatte. Ohne dass ihn die Mutter dem Großvater opfern wollte, um zwanghaft böse zu sein, um die Schuld die sie sich aufgeladen hatte oder die ihr von ihrem Vater aufgeladen worden war, nicht als Schuld sehen zu müssen sondern als Verdienst. Ohne dass ihm der Vater noch einen mitgeben wollte, damit das Werk vollendet wäre und das Kind sich nicht mehr berappeln würde und die Gefahr, dass das eigene Versagen ans Licht kommen würde, für immer gebannt wäre.

Nachdem ich es endlich selbst probieren konnte – ohne die bedrohlichen Schrecken, die von überall her zu kommen schienen. Als ich endlich frei war von dem Gezeter und wenigstens äußerlich Ruhe einkehrte. Endlich selbst probieren, wie es denn wirklich war.

Nachdem ich feststellte, dass es alles noch anders war: All die guten Vorsätze, es alles ganz anders zu machen, halfen nicht. Es war einfach alles zu fremd und die verzweifelten Versuche am Steuer zu reißen, brachten nicht die grundlegende Erneuerung, die dann alles richtig machen würde. Die Vergangenheit war tief vergessen, aber wohl dennoch präsent. Es war mühsam Schritt für Schritt zu lernen und zu begreifen, wie das Leben wirklich war. Dass es nicht so gezwungen und verzweifelt wie die Eltern war, aber dass es die erträumte Rettung aus der eigenen Verzweifelung eben auch nicht gab. Es mußte alles probiert werden: Die Kehrung nach außen zu Freunden und Alkohol, die Resignation in Ziellosigkeit, der berufliche Ehrgeiz und Erfolg, die Zweisamkeit mit Frauen, schnell wechselnde Partner, eigene Kinder und schließlich die Erkenntnis, dass am Ende alles leer war. Das war der Moment als der kleine Junge sagte: “Ich habe genug gesehen,” und er fügte hinzu: “ich will gehen”.

Es folgte das Erschrecken des älteren, der die Niederlage nicht zulassen wollte und nach anderen Auswegen suchte. Aber alles argumentieren half nichts: Die Lust und die Hoffnung auf Neues war verbraucht. Wenn das Kind keinen Sinn mehr in dem bunten Treiben sehen kann, dann will es nach hause und endlich Ruhe haben und nur noch schlafen, für immer.

Dann mußte ich die Reißleine ziehen, aussteigen – wenigstens für einige Wochen. Lernen was andere für einen tun können: Einem den Rücken frei halten für einige Zeit, einem zuhören bis man selbst nicht weiter weiß, Medikamente die helfen Schlaf zu finden und ein wenig Erleichterung von der großen Angst bringen, dass das was ich gesehen hatte, wirklich schon alles gewesen sein könnte. Aber viel wichtiger war es zu lernen, dass die anderen nicht helfen können, die eigenen Erkenntnisse und Schlußfolgerungen zu ziehen. Natürlich gibt es immer die, die einem mit guten Ratschlägen zur Seite stehen wollen – so wie damals mein Großvater. Aber genau wie damals ist das immer nur Eitelkeit, die vorgibt etwas von der Wahrheit zu verstehen. Aber mein Leben hing davon ab, dass ich die richtigen Schritte wählte und ich hatte keine Zeit alles mögliche auszuprobieren. Und ich hatte schon genug gesehen um zu merken, was echt war und keinen der Strohalme ernst zu nehmen. Aber das eigentliche Problem blieb, dass die Hoffnung, dass das Leben doch noch irgendwo die Rettung und die dauerhafte Freude versteckt haben könnte, einfach sehr klein geworden war. Dass dann weiter alles leer blieb und ich nichts mehr finden konnte, mit dem ich die sinnlose Leere hätte füllen können.

Am Ende blieb mir nur ich selbst und ich begann dem Bedürfnis, das ich schon immer hatte, mich nach innen zu wenden, den Namen “Meditation” zu geben, damit es gut und richtig wäre und kein Versagen. Wenn die ganze Angst und Hoffnungslosigkeit durch den verzweifelten Versuch “dazu zu gehören” nicht mehr vertrieben werden konnte, mußte ich wohl alle Zeit, die mir dafür blieb damit zubringen, diese Angst und Hoffnungslosigkeit kennen zu lernen. Das schien mir die einzige Möglichkeit sie soweit zu besänftigen, dass sie mich nicht dann überfielen, wenn die äußeren Umstände sie noch stärker werden liessen und ich ihnen dann erst recht nicht gewachsen wäre. Das ist nun ziehmlich genau 2 Jahre her und bis heute scheint dieser Weg der richtige gewesen zu sein.

Vielleicht ist es so traurig, wie es mir damals schien: Vielleicht ist das Leben einfach nur leer und wir sind dazu geboren, zuzusehen, wie sich gute Momente ereignen, nur um dann auch erleben zu müssen, dass nach einem besonders schönen Moment der Schmerz des Verlustes umso größer ist. Vielleicht ist dieses Gefühl, dass ich schon als Kind hatte, einfach die Wahrheit des Lebens. Eine Wahrheit der ich damals sehr nahe war, aber die zu erkennen ich mir damals nicht zutraute. Zumal meine Eltern doch alle Energie darauf setzten ihr Glück auf ganz andere Weise zu finden. Eine traurige Wahrheit, mit der ich niemanden behelligen wollte, weil doch alle fröhlich sein wollten und möglichst viel Freude und Spaß haben. Eine Wahrheit, die ich deshalb beiseite legte, um vielleicht auch irgendwo da draußen dauerhaft Freude und Spaß finden zu können. Aber vielleicht wird aus dem Versuch dauerhaft Freude und Spaß zu haben, schnell eine sinnlose Anhäufung von Spaßfaktoren und ist dann ohne deren empfundenen Verlust sinnlos. Vielleicht kommen darum Taurigkeit, Schmerz, Verlust und Mangel – als notwendige Kehrseiten der Freude – der Wahrheit näher als Spaßmaximierung. Vielleicht ist es gut und richtig diese Kehrseiten des Lebens zu suchen und in aller Fülle zu erleben, weil diese auf dem Weg liegen, der zur Wahrheit führt. Vielleicht war das aus der Taurigkeit und dem Schmerz des abgewiesenen Kindes geborene Gefühl, mehr als die meisten anderen zu wissen, gar nicht so falsch wie es mir damals schien. Und vielleicht besteht am Ende sogar das Glück aus diesem Weg zu dieser Wahrheit und kann dort doch noch gefunden werden, wenn das Kreiseln zwischen Spaß und Langeweile, Gewinn und Verlust, Reichtum und Mangel, Gesundheit und Schmerz, Freude und Traurigkeit, Stärke und Schwäche endlich einen Level höher steigt.

Wie kann ich ihnen helfen zu beweisen, dass sie Recht haben? Damit sie mich endlich in Ruhe lassen

Dass es schon so war, dass ich mich als Kind immer wieder verraten habe und mich auf die Seite des Stärkeren (Großvater) geschlagen habe, auch gegen mich selbst und das was ich noch kurz vorher gewollt oder geglaubt habe. Dass ich Angst vor diesen Situationen hatte, in denen sie mir wieder beweisen wollten, dass sie das mit mir machen können. Dass mich das alles so unendlich traurig gemacht hat. Dass ich so viel Angst vor ihnen hatte und mir immer wünschte, dass Papa auf meiner Seite wäre. Aber auch der hat mich in solchen Situationen immer wieder verlassen. Dass ich rumgelaufen bin und das meine Botschaft war an die anderen: Dass es keinen Sinn macht dagegen anzustehen, weil sie am Ende doch stärker sind als man selbst und man sich daher besser unterordnen muß. Dass sie mir das einfach so beigebracht haben. Dass das schlimmer war, als wenn sie mich nur einfach streng erziehen wollten, weil sie es für nichts gemacht haben, außer dafür um mir zu zeigen, dass ich mich nicht wehren kann. Weil sie mir beibringen wollten, dass ich schwach bin. Weil sie mich verachten wollten. Weil sie glauben wollten, dass man das mit ihnen nicht machen könnte. 

Dass es vielleicht das war, was wirklich gemein und hinterhältig war: Dass sie mich zwangen mich immer wieder vor ihnen zu erniedrigen. Dass es eine Sucht war, der sie immer wieder nachgeben mußten. Dass ich da mitspielen mußte und sie mußten immer noch dreckiger und gemeiner werden, um sich selbst immer wieder neu und noch besser und endgültiger zu beweisen, dass ich der Schwache war und nicht sie. Weil das, was sie mir zumuteten nur von jemandem akzeptiert werden könnte, der wirklich schwach ist. Aber dann kamen ihnen immer wieder Zweifel daran, weil sie schon merkten, dass bei dem Spiel immer sie die Erbärmlichen waren. Und ich hatte einfach aufgegeben, weil ich wußte, dass sie am Ende vor nichts zurück schrecken würden. Wer war also so abnorm? Das kleine Kind, das keine Wahl hatte und die Situation nehmen mußte wie sie war? Oder der, der die Situation immer wieder schuf? Das gemeine war, dass sie mich glauben liessen, dass ich eine Wahl gehabt hätte. Nur um den ganzen Dreck und die ganze klägliche Scheiße irgenwie zu rechtfertigen.

Von den Eltern lernen

So befremdlich sich das vielleicht anhört: Ich glaube die Schizophrenie meiner Mutter und die Selbstmorde meiner Eltern, sind mir bis heute eine Hilfe. Es gibt Momente, in denen die Angst so fürchterlich zu mir zurück kommt und ich nicht weiß, ob ich das weiter aushalten kann. Dann kann ich mir aber an dem Beispiel meiner Eltern klar machen, dass es nicht der richtige Weg ist, immer nur dorthin zu laufen, wo der geringste Widerstand ist und sich nicht dem zu stellen, was einem so viel Angst macht. Seien es Erinnerungen oder der eigene Vater oder was auch immer. Dass es für mich keinen anderen Weg gibt zum Leben, als da durch zu gehen. Und wenn ich daran zerbreche, dann ist es trotzdem meine einzige Chance. Dass es notwendig ist, sich dem ganzen Schlamassel noch einmal zu stellen – auch wenn sie einem als Kind mit aller Gewalt genau das abgewöhnen wollten.

Die Maske

Während der ganzen Vorbereitungen zu meinem Verkauf, gab es eine entsetzliche Situation, bei der ich eine Atemmaske aufsetzen sollte. Die Maske hatte einer bestellt, der mich dann kaufen wollte, und meine Mutter hatte eingewilligt sie anfertigen zu lassen. Ich hatte keine Ahnung und sie war dann immer sehr nett zu mir und so ging ich immer brav mit. Bei der Abholung bei dem Verkäufer der Maske wollte sie sie aber auch ausprobieren. Dann sollte sie sie bei der Übergabe mitbringen.

Ich sollte mich dann auf einen Stuhl setzen und meine Mutter war ganz ungewöhnlich liebevoll und vorsichtig und ich ließ alles geschehen. Ich wurde festgeschnallt am ganzen Körper und dann fragte mich der Mann, ob ich eingepudert werden wolle, wenn man mir die Maske aufsetzen würde. Ich wollte tapfer sein und verneinte. Er meinte noch, dass das aber angenehmer wäre aber ich schüttelte den Kopf und er zuckte mit den Schultern.

Das Erlebnis mit dieser Maske war entsetzlich, es waren zwei Schläuche daran, die zu meiner Nase führten und über die ich Luft holen konnte – wenn man nicht seitlich, wo ich nicht hinsehen konnte, die Luftzufuhr abschitt, indem man die Schläuche zusammen drückte. Ich kann mich noch heute an das Gefühl erinnern, das in dem einen Moment als zum ersten Mal die Luft weg blieb in einem entsteht: Innerhalb eines Sekundenbruchteils wird einem alles klar. Alle Fasern des Körpers sind völlig angespannt das Gehirn fängt an zu hämmern und man wartet auf die Luft. Wenn diese kommt, versucht man gleichzeitig ein- und wieder auszuatmen so schnell wie möglich und verschluckt sich und muß husten und nichts geht mehr. Meine Mutter hat das nur zweimal gemacht und ich konnte nicht sprechen, da ich geknebelt war und ich hoffte inständig, dass meine Mutter das Entsetzen und die Angst in meinen Augen sehen könnte. Aber ich konnte meine Mutter nicht sehen.

Der Mann sagte dann relativ leise, sie solle aufhören, das wäre für mich ganz schrecklich. Sie hörte dann auf und ich fing an ganz schnell und hektisch zu atmen. Und der Mann fing an zu schimpfen mit meiner Mutter, dass das jetzt lebensgefährlich wäre und wenn ich hyperventiliere könnten sie mir die Maske nicht abnehmen. Dass er da nicht hätte einwilligen sollen und dass es die Schuld meiner Mutter wäre, wenn das jetzt alles auffliegen würde.

Meine Mutter wurde dann wieder ganz fürsorglich und redete ganz ruhig auf mich ein und beruhigte mich und dann fing ich langsam wieder an ruhig zu atmen. Dann haben Sie mir die Maske abgenommen und mich losgemacht und wir gingen hinaus. Draußen kaufte mir meine Mutter etwas zu Trinken, wieder ganz fürsorglich, irgend etwas Süßes was wir Kinder gerne mochten und was ich sonst nie von ihr bekam. Sie fragte dann interessiert und lächelnd aber nicht besorgt: “Haßt Du micht jetzt?” Ich wußte nicht was ich sagen sollte, da ich doch so sehr in ihrer Macht war.

Zu hause habe ich meinen Schwestern davon erzählt, weil ich einfach an nichts anderes mehr denken konnte. Als dann mein Vater nach hause kam, erzählte ihm meine Schwester wohl gleich davon und dann kam mein Vater zu mir gerannt und schrie, dass ich mir da wieder etwas ausgedacht hätte und schlug auf mich ein. Es war so, so schrecklich. Von da an wurde es zu hause immer schlimmer, mein Vater nutzte jede Gelegenheit mich auszuschimpfen und lächerlich zu machen vor anderen und meine Mutter verfolgte eisern ihren Plan. Ich wurde immer einsamer und verlorener. Ich durfe auch nicht allzu viel Kontakt zu anderen haben und wenn wurde genau darauf geachtet, dass ich niemandem etwas erzählen könnte. Dabei hätte ich mich wahrscheinlich sowieso nicht getraut und wenn doch hätte mir niemand geglaubt.

Ich wußte dann nicht mehr, ob ich mir nicht wünschen sollte, weg zu kommen und hatte die leise Hoffnung, dass es dann vielleicht sogar besser werden könnte.

Kann nicht einfach einer die Angst von allen tragen?

Ich habe als Kind erlebt, wie alle auf einmal aufgehört haben, sich für mein Wohlbefinden oder überhaupt für mein Befinden zu interessieren und mich innerlich verstehen zu wollen. Auf einmal – für mich unbegreiflich – hat meine ganze Familie angefangen, alles was ich tat in Schubladen zu packen ohne es überhaupt richtig anzusehen. Die Schubladen hießen: “Der Junge ist nun einmal schwach” und “Der Junge versucht uns auch schwach zu machen, mit seiner Wehleidigkeit” und “Der Junge hat noch nicht erkannt, dass er schwach ist und tut so, als ob er stark wäre und dann kann er sich auch nicht bessern”. Alles war entweder schwach oder schwach. Ich bin dann auch gegenüber mir selbst abgestumpft und zu einer Art Maschine geworden, die je nach Stimmung die Schubladen gehorsam vollmacht und das Interesse der anderen an meiner “Kategorisierung” in Schubladen befördert und entsprechend der Erwartungen agiert (dann ist endlich ein wenig Ruhe) oder stört und bockig ist und die Einsortierung etwas schwieriger macht. Aber hinbekommen haben sie das immer und es war mir einfach nicht möglich, ihr Weltbild und vor allem ihr Bild von mir irgendwie anzukratzen. Daher war alles sehr beliebig und sehr dunkel und teilnahmslos und eigentlich egal. Ich denke, dass ich damals meine heutige, abfällige und unbeteiligte Sicht auf die Welt entwickelt habe.

Und die Großen gingen auch selbst mit sich so um: Genauso teilnahmslos und sich selbst diesem System untewerfend. Alle: Großpapa, Mama und Papa. Ihre Gefühle zu mir wie Wut (Schimpfen) oder Liebe (Lob) waren dem System untergeordnet und wurden  eher nach ihren Interessen eingesetzt und benutzt, als dass sie Ausdruck echter Gefühle waren. Ist der Vater wirklich wütend auf den kleinen Jungen, weil der ehrliche und deutlich sichtbare Angst davor hat, zu seinem Großvater zu müssen? Ist ein Großvater wirklich wütend auf die Angst des kleinen Jungen, der in berechtigter Todesanst vor ihm steht und nicht aus noch ein weiß? Ist der Großvater wirklich liebevoll zu seiner Tochter, weil sie falsch und gemein zu allen anderen ist? Für mich sind das alles mißbrauchte Gefühle. Weil sie wie echte Gefühle verwendet werden: mit Schreien, Weinen und allem was zu Gefühlen gehört und bei dem Gegenüber auch die gleichen Reaktionen wie Angst oder Mitleid hervorrufen, aber sie sind nicht wahr sondern herzlos übergestülpte Masken.

In dieses System gehörte dann, dass meine Eltern ihre Angst vor Großpapa “Achtung”, “Respekt” oder gar “Demut” nannten und meine Angst vor ihm “Bockigkeit”, “Egoismus” und vor allem “Schwäche”. Ich habe wirklich alles versucht, irgendwie in dieses System zu passen und hätte alles darum gegeben, meine Angst genauso wie sie nennen zu dürfen. Ich hätte auf mich genommen alles zu sein was sie wollten: schwach oder stark, gehorsam oder ungehorsam. Ganz die Schublade in die sie mich stecken wollen, wenn das nur aufgehört hätte mit dieser ständigen Kritik an mir und dass ich nun aber wirklich alles falsch machen würde. Ich wollte meinen Eltern ja auch helfen und habe versucht meine Angst zu besiegen. Und nach außen hat das auch funktioniert, so dass man mein innerliches Zittern, Schreien und Weinen und die ganze unendliche Verzweifelung nicht sehen konnte. Aber was ich nie so richtig hinbekommen habe, war die Angst innen in mir drin nicht mehr zu haben, und ich fragte mich, ob das sein kann, dass man so lange an etwas arbeiten muß ohne das Gefühl, dass es richtig ist, bis man irgendwann durch ist und es dann tatsächlich richtig ist. Wie hätte ich das wissen können als vierjähriger, wenn ich es heute noch nicht einmal weiß?

Wenn ich dann bei Großpapa war, dann wollte er auf einmal gerade, dass ich die Angst hatte und vor allem, dass ich mich auch wehrte. Das war dann das völlig Unverständliche: Dass ich mich zu hause nicht wehren durfte und still halten mußte – da wo ich noch eine Chance gehabt hätte, etwas zu ändern. Dass ich dort noch nicht einmal sagen durfte, dass ich nicht zu Großpapa wollte. Aber wenn ich dann bei ihm war, mußte und sollte ich meine Angst heraus holen und versuchen wegzulaufen und mich dafür demütigen lassen oder auf irgendeine Art Widerstand zeigen, damit dieser gebrochen werden konnte. Sonst hätte es wohl keinen Spaß gemacht und die Machtdemonstration hätte nicht funktioniert. Und wenn ich das mit meinen Eltern besprechen wollte, hatten sie keine Zeit. Es war ein riesiges System aus Lügen und Verstellungen. Ein Teil von mir (und vielleicht auch von den anderen?) hat das immer gewusst, aber es war zu schrecklich um es zu glauben und also tat ich das als “zu unwahrscheinlich” ab.

Dabei war das ganze Lügengebäude am Ende nur ein einziges, wahres Gefühl: Angst. Angst die keiner haben wollte und daher dem Kind auf die Schultern packte. Eine für mich unverständliche Angst der Großen vor dem Alten, der ihnen doch gar nichts tun konnte. Eine für mich unverständliche Angst des Alten vor den eigenen Gefühlen und davor zurück gewiesen zu werden. Und die Angst des Alten und der Eltern vor Entdeckung, die ich auch nicht verstand, weil ich das ja alles für richtig hielt und auch niemals gewagt hättee, irgendjemand davon zu erzählen. Ich verstand nicht, dass sie das nicht sahen und trotzdem Angst hatten, und manchmal versuchte ich sie zu beruhigen, weil ich ihnen helfen wollte und hoffte, dass es dann besser würde. Zu dieser ganzen unverständlichen Angst der Großen, die sie zu meiner Angst machten, kam dann noch meine eigene Angst vor meiner Zukunft: Ich konnte mir nicht gut vorstellen, dass man sich so lange gegen die eigenen Gefühle richten mußte, um das richtige zu tun. Und ich merkte, dass ich mich immer mehr veränderte und nur ein Teil von mir konnte mich selbst davon überzeugen, dass das der richtige Weg war. Wie gerne hätte ich mich selbst restlos davon überzeugen wollen, aber es blieb immer die Angst davor, dass das alles falsch sein könnte.

Es gab niemanden, der diese Angst wenigstens mit mir geteilt hätte. Wenn ich versuchte bei meinen Eltern Hilfe oder Rat zu finden und ihnen von diesen Änderungen an mir und meinen Zweifeln berichten wollte, um mich wenigstens beruhigen zu lassen, wurde ich an meinen Großvater verwiesen. Bei dem bekam ich dann schon die Bestätigung, dass das alles richtig wäre – aber ich wußte auch, dass er die Quelle all dieser Veränderungen war und ich konnte ihm nicht wirklich glauben. Ich habe mich selbst wirklich nicht dafür gemocht, dass ich immer alles so kompliziert mache und nicht einfach Vertrauen haben kann, aber es war nun einmal so und ich mußte damit leben.

Irgendwie ist es bis heute diese Angst vor meiner eigenen Zukunft, die mich nicht zur Ruhe kommen läßt. Dabei habe ich die Mitte meines Lebens vermutlich längst überschritten. Aber die Angst hört nie auf und ich konnte bis heute niemanden finden, an den ich diese Angst abgeben könnte. Vielleicht muß diese Angst sogar immer größer werden, je näher ich an mein Ende komme und an meinem Leben nichts mehr zu ändern ist. Vielleicht ist es das, was ich und jeder von uns selbst schaffen muß, egal wie groß der Schrecken ist, den das Leben einem auf den Kopf werfen kann, in der Vergangenheit oder in der Zukunft: Das Leben verlangt auch noch von einem, dass man das aushält, den Kopf nicht einzieht und die Angst aushält, weil es die Angst davor ist, an dem eigenen Leben zu scheitern. Dass man diese Angst annimmt und nicht verzweifelt nach einem anderen sucht, dem man die Schuld an allem und dann auch gleich noch die Angst geben könnte. Dass man die Angst davor, endgültig zu scheitern und doch noch an dem ganzen Schrecken vollständig kaputt zu gehen, aushält und ansieht und begreift. Und dann am Ende hinter der ganzen Angst und Traurigkeit in Dankbarkeit sieht, was der eigene Sinn und die eigene Bestimmung ist.

Ich denke, dass alle Religionen dazu sagen, dass es dafür in diesem Leben erst zu spät ist, wenn man tot ist.

(PS: Eigentlich machen das viele Eltern, dass sie ihren Kindern Liebe oder Wut “vorspielen”, um den Kindern “eine Lehre zu erteilen” – meistens sehr gut gemeint, um ihre eigene Weltsicht zu transportieren. Aber ich kann mich erinnern, dass ich so etwas als Kind ganz genau merkte und befremdlich fand und mir die Erwachsenen eher Leid taten. Die Kinder spielen dann meistens mit – aber nur um dem Erwachsenen zu helfen oder ihm einen Gefallen zu tun. Das Kind hat eigentlich überhaupt kein Interesse an “vorgekauten” Lebensweisheiten und will nicht “trainiert” werden. Es ist nur an der Wahrheit interessiert, die es in den wahren Gefühlen der Eltern finden kann. Aber das ist nicht mein Thema.)

Auf meiner Seite

Irgenwie war das auch eine der Phantasien, die mir da durch geholfen hat: Dass mein Onkel Eberhard, den ich nie gesehen hatte und von dem ich nur ein einziges Bild kannte, auf meiner Seite wäre. Dass er das ganze sieht, was er selbst auch schon durchgemacht hat und mich ansieht und weiß, dass das alles gelogen ist. Dass sie das alles erfinden, weil sie ein Opfer brauchen, um sich selbst stark zu fühlen. Dass ich nicht so schwach bin, wie alle sagen und so überflüssig und eigentlich auch keine Last. Jedenfalls nicht, wenn man keine Last aus mir macht. Dass ich wenn ich endlich sterben würde, als erstes ihm begegnen würde, weil er auf mich gewartet hat und sagt: “Du brauchst nichts zu sagen und Du mußt Dich nicht mehr verteidigen oder beschützen. Ich weiß alles und alles ist vorbei. Hier ist es schön, komm mit.” Dann würde ich endlich weinen können, ohne dass sie das gleich verändern wollen. Weinen können, ohne dass meine Mama gleich kommt und sagt: “Es ist gut dass Du weinst und jetzt wollen wir daraus mal Stärke machen.” (Irgendwie waren sie alle so dressiert, dass Traurigkeit Schwäche ist und man dann besser wegläuft, bevor Großpapa einen dabei ertappt, dass der eine traurig ist und der andere nicht rein schlägt.)

Natürlich habe ich mich auch geschämt, weil ich mir solche Sachen vorgestellt habe, die ja gar nicht stimmen. Aber es war trotzdem schön, mir das vorzustellen und es war ein kleines bischen Zuflucht, weil eben sonst keiner auf meiner Seite war. Ich habe diese Phantasien aber ganz und gar als meinen Fehler gesehen und als Zeichen meiner Schwäche. Und dann dachte ich, dass vielleicht ja auch mein Onkel da oben steht und mich auslacht und amüsiert den Kopf schüttelt, so wie mein Vater, weil ich so schwach bin und noch nicht einmal alleine damit klar komme. Aber das konnte ich nicht glauben und wenn, dann war es mir auch fast egal, weil ich ihn dann nicht brauche konnte. Und dann habe ich eben an jemand anders geglaubt, denn irgenwie war es gut, sich nicht so alleine zu fühlen und irgenwie konnte ich das nicht anders aushalten – egal ob ich nun schwach war oder nicht.

Nur nachher, als ich sie mich aussortiert hatten und ich weg sollte von zu hause, hat mich leider auch Eberhard verlassen, weil damit auch er keine Erfahrung hatte. Da war ich dann ganz alleine mit meiner Traurigkeit und Panik.

Aber heute versuche ich, dieser Eberhard zu sein für das traurige Kind in mir, dass das alles noch immer nicht verstehen kann. Das sich immer noch so schwach und einsam fühlt in dieser großen Welt der Großen, die so kalt ist und so fremd. Ihm zu leuchten und das zu sagen, was er mir damals in meiner Phantasie gesagt hat: “Du brauchst nichts zu sagen und Du mußt Dich nicht mehr verteidigen oder beschützen. Ich weiß alles und alles ist vorbei. Hier ist es schön, komm mit.”

Brief an die Verwandtschaft

Liebe Tanten und Onkels,

mir geht es gut – wie geht es Euch. Hier ist es sehr schön und ich bin froh, dass ich immer so getan habe, als würde ich die Geringschätzigkeit, mit der ihr mich behandelt habt, nicht merken. Ich habe immer so getan, weil ich nicht wußte, wie ich es Euch heimzahlen kann. Weil meine Eltern genau wie ihr im Bann meines Großvaters waren, dummerweise eben auch mein Vater, der komischerweise sogar irgendwie vor Euch Angst haben zu schien. Aber alle haben sich klein gemacht, gegenüber dem tyrannischen, schwulen, verwöhnten Arschloch von Großpapa mit seinem Schwanz, der viel zu dick war für den kleinen Kinderhals.

Ich habe immer versucht, erwachsen zu erscheinen und Euch alles zu verzeihen. Aber in meinem Herzen habe ich mir immer gewünscht, Ihr wäret auf meiner Seite. Auch wenn es hart kommt. Auch wenn der Großvater mich wieder schwach findet und jeden, der sich auf meine Seite stellen würde, auch schwach finden würde. Mit den ganzen Torturen und Foltereien, zu denen ein heimlicher, frustierter Schwuler mit sozialdarwinistischen Machtphantasien eben gegenüber einem wehrlosen kleinen Kind fähig ist. Ein ekeliger, alter Mann, gedeckt von seiner ganzen Sippschaft, geifernd vor, hinter und über seinem wehrlosen Opfer.

Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass irgendjemand auf meiner Seite wäre. Nur für einen Tag. Nicht, weil ich mir zu träumen gewagt hätte, dass dann alles aus sein könnte. Nur um ein wenig Frieden mit mir selbst haben zu dürfen und nicht so einsam sterben zu müssen. Ich war komplett fertig mit diesem sinnlosen Leben. Ich war nur nicht bereit und in der Lage diese Einsamkeit und Verachtung, durch alle Menschen die ich kannte, auszuhalten. Ich konnte den Gedanken einen solchen Tod erleiden zu müssen nicht aushalten. Das war alles was ich wollte: Einen schönen Tag erleben ohne Demütigungen und ich dachte, dass ich dann Ruhe geben könnte und in meinen Tod eingewilligen.

Darum, um diesen einen Tag irgendwie möglich zu machen, habe ich immer so getan, als würde ich nichts merken. Darum habe ich das alles ausgehalten: Meine Mutter, die genauso gerne wie ihr stark sein wollte, in den Augen meines Großvaters. Die uns bereits als kleine Kinder quälte, weil ihr Großpapa ganz einfach weismachen konnte, wie schwach wir wären und dass wir eine harte Hand bräuchten. Wie sehr mußte ich mich immer wieder anstrengen, Ihr zu bestätigen, dass sie recht damit hatte. Weil wir früh gemerkt hatten, dass eine so eingebildet starke Frau wie sie, es nicht erlauben kann, dass man ihr widerspricht und sonst komplett durchdreht. Dabei war sie doch so schwach und ängstlich! Wie sehr mußte ich mich anstrengen, sie da irgendwie durchzubringen, damit mein und das Überleben meiner Geschwister irgendwie ermöglicht wurde! Und dabei hat mir, dem Schwachen, niemand – außer meinen Schwestern – geholfen: Nicht Ihr und nicht mein Vater.

Und mit Euch hat Großpapa doch das gleiche Spiel gespielt: Wer den kleinen Dietrich verteidigt ist schwach! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass Ihr auf meiner Seite wäret und dass Ihr mir helft, diesen einen Tag zu erleben. Aber für Euch waren meine Versuche, Euch irgendwie doch noch für mich zu gewinnen und an Eure Menschlichkeit zu appelieren, immer nur ein Zeichen meiner Schwäche.

Ich habe das dritte bis sechste Jahr meiner Kindheit damit zugebracht, mir jeden Tag aufs neue den Kopf darüber zu zuermartern, wo mein Fehler ist und ich habe nichts, nichts unversucht gelassen, da irgendwas dran zu drehen, dass das aufhört. Dabei sind sicherlich oft wirre Aktionen heraus gekommen. Aber das Spiel, dessen Regeln ich zu dumm war zu begreifen ging so: Der Großpapa schlägt und alle sehen zu und schlagen ein bischen mit. Wenn er sich wehrt, ist das nur ein Zeichen, dass er seine Schwäche nicht einsehen kann und er muß noch besser dressiert werden. Wenn er weint und um Hilfe bittet, seht Ihr ja wie schwach er ist. Das Resultat ist das gleiche, weil er doch gestählt werden muß und weil er zu dumm ist das Spiel zu verstehen. Und wenn er gar nichts tut, ist es noch am besten und dann ist ein bischen Ruhe. Aber dann muß er auch einsehen, dass er schwach ist, weil der doch verloren hat. Die Frage an Euch ist: Ist er wirklich der Verlierer in diesem Spiel? Dass er so unendlich traurig ist und nicht verstehen kann, wie es auf der Erde solche Spiele geben kann, deutet darauf hin, nicht wahr? Dass er sich fragen muß, wie es in einer Welt, die doch ihn selbst hervorgebracht hat, solche Erlebnisse geben kann, das muß doch ein Zeichen von Schwäche sein. Nicht wahr?

Ich habe das damals auch selbst als Schwäche empfunden, dass ich da auch noch selbst mitspiele und immer wieder nach einem Ausweg suche. Aber der einzige Ausweg, der mir einfiel war der Tod. Und eigentlich wollte ich auch in einer Welt, die so anders ist als ich selbst, nicht weiter leben. Hätte ich mein junges Leben also wirklich beenden sollen? So sterben? Ohne dass einer auf meiner Seite ist? Aber wozu dieser Tod? Wäre ich dann endlich stark gewesen? Hätte einer von Euch dann gesagt: “Oh hoppla, der war ja doch nicht so schwach. Haben wir uns wohl getäuscht.”? Wenn ich daran hätte glauben können, hätte ich vielleicht einen Weg gefunden, das alles zu beenden und könnte das heute nicht mehr schreiben. Aber ich wußte, dass Ihr das nicht gesagt hättet, sondern: “Tja, Großvater hat es ja immer gesagt.”

Ich hasse Euch, ich hasse Euch, ich hasse Euch und ein Teil von mir wird Euch immer hassen. Dafür, dass da keiner den Mund aufgemacht hat, als mich Großpapa vor Euren Augen gedemütigt hat. Dass Ihr Euch zu ihm an den Tisch gesetzt habt und nicht zu dem kleinen, hilflosen Jungen an seinem Extratisch. Wofür? Wer von Euch steht denn jetzt auf einem Denkmal, zusammen mit Großpapa und als Beweis für Eure Stärke? Und für diese überlegene Ideologie, die das Schwache ausmärzen möchte, und die doch dann als erstes selbst ausgemärzt werden müsste. Wenn Ihr Recht hättet, wäre das ganze Leben doch nur eine lächerliche Marionettenveranstaltung – aber vermutlich ist es genau das, was Ihr unter Leben versteht. Und für Marionetten ist das ja wahrscheinlich auch die einzige Art von Leben die sie kennen.

Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie mir schlecht ist bei den Erinnerungen und ich kann gar nicht so viel heulen, wie mich dieser ganze widerwärtige Quatsch traurig macht.

Wer gab und gibt Euch nur das Recht, Euch so über andere Menschen zu stellen? Wer gab Euch nur das Recht, die Scham, die doch bei Euch sein sollte, dem kleinen, vierjährigen Kind aufzutischen? Eure eigene, kleine Angst davor selbst herabgewürdigt zu werden? Dann kann ich nur sagen, dass Euch niemand mehr herabwürdigen kann, als ihr es selbst in diesem Moment tatet. Oder einfach nur Großpapa mit seiner eingebildeten Stärke und seinen Träumereien von der  starken Rasse? Aber warum habt ihr das dem geistig klein gebliebenen Familientyrannen geglaubt? Dass er weiß, wie das geht mit der starken Rasse und wer stark und wer schwach ist? Weil er im 3. Reich und danach soundso viele Menschen inklusive seiner eigenen Kinder und fast auch Enkelkinder auf dem Gewissen hat? Ist das Eure starke Rasse? Kann eine Lehre, bei der diejenigen, die sich Stärke anmaßen und draus das Recht ableiten andere zu quälen stark sein? Habt Ihr das wirklich geglaubt? Also was dann? Und sagt jetzt nicht wieder, dass ihr das ja alles nicht wußtet – ihr wußtet nicht alles aber Ihr wußtet genug.

Ich denke, dass Ihr nicht daran vorbei kommt, darauf eine Antwort zu finden. Meine Eltern konnten es nicht. 

Viele Grüße auch an Euren Tod, – und vor allem: Nicht schwach werden! Nicht wahr?

Dietrich

PS: Ich weiß, dass zwei von Euch Älteren zweimal “heimlich” auf meiner Seite waren. Ihr glaubt nicht, wie wichtig das für mich war und wieviele Wochen mich das wieder weiter getragen hat. Aber es war nicht genug.

Mamas Traurigkeit

Mama war so traurig innen drin. Ihre eigene Mutter war gestorben als sie 14 war und sie erzählte uns, dass sie ihre eigene Mutter an die Nazis verraten hatte, weil die Mutter gegen den Krieg war und alles. Ihre Mutter war dann zum Verhör geholt worden und kam dann aber wieder nach hause und war wohl ziehmlich verstört aber verzieh meiner Mutter. Aber dann starb sie nach einiger Zeit und meine Mutter war der Meinung, dass sie sich nie von dem Verhör und dem Kummer erholt hatte, den meine Mutter ihr angetan hatte.

Ich glaube, dass mein Großvater ihr das eingeredet hat und ihr sagte, dass das ein Zeichen von Stärke wäre, wenn sie das aushalten und die Schuld auf sich nehmen würde und damit leben könne und das gut finden könnte. Ich glaube auch, dass mein Großvater selbst seine Frau los werden wollte, weil sie seine Naziphantasien nicht teilte und sie ihn erstens an seiner eigenen “Starkwerdung” hindern würde und weil sie zweitens ihre schützende Hand über seinen Sohn, Eberhard, hielt und er seine “Stärke-Erziehung” an seinem Sohn so extrem wie möglich durchziehen wollte.

Unsere Mutter erzählte uns auch, dass Ihr älterer Bruder, Eberhard, den Großvater zu einem Starken machen wollte mit der ganzen Brutalität und Grausamkeit die er dafür so gerne anwandte unter der schützenden Hand seiner Mutter gestanden hätte, die nach deren Tod ja wegfiel und Großpapa dann freie Hand hatte. Auch daran gab sich meine Mutter die Schuld. Und wohl auch nicht ganz zu unrecht, denn sie erzählte auch, dass Großpapa oft sehr brutal zu Eberhard gewesen wäre, dass er ihn zum Beispiel auch über nacht in einem Erdloch eingesperrt hätte. Sie erzählte aber auch, dass es dann auch wieder lustig gewesen wäre, mit anzusehen, wie sich Eberhard gewunden hätte, wenn Großvater ihn quälte.

Meine leibliche Großmutter starb jedenfalls an etwas, Thrombose wurde diagnostiziert und allgemein wurde von schlechter ärtzlicher Versorgung im Krieg gesprochen und auch Großpapa, der ja Tierarzt war, war an der ärztlichen Betreuung seiner Frau beteiligt. Was wirklich geschehen war, werde ich nie wissen aber ich zweifele an vielem was mir in diesem Zusammenhang erzählt wurde.

Meine Mutter erzählte jedenfalls auch, dass ihre Stiefmutter, meine Großmutter, in die Familie als Haushälterin kam als ihre Mutter noch lebte und dass diese sich immer als Verbündete der Kinder ausgegeben hatte, auch gegen deren eigene Mutter und Vater. Dass diese aber doch erst dem Großvater “diese Ideen” vorgestellt hatte und sich mit ihm verbündet hätte. Und als ihre Mutter das mitbekommen hätte, wäre es längst zu spät gewesen.

Als ihre Mutter starb gab es laut meiner Mutter auch noch ein kleines Baby und meine Mutter war traurig und die Feinde (die Russen im Krieg) kamen näher und keiner wußte, was nun aus dem Baby werden solle. Meine Mutter, die sich ja die Schuld an allem gab, nahm sich dann der Sache an und erstickte das Kinde mit einem Kissen.

Wenn uns unsere Mutter diese Dinge erzählte, wurde sie immer trauriger und am Ende ging dann ein Ruck durch sie und sie drückte sich durch und wollte zu ihrer Stärke zurück finden. Wenn wir sie danach in irgendeiner Form daran erinnerten wurde sie sehr wütend und sehr brutal.

Ich war immer so traurig und wütend auf meinen Vater, der meiner Mutter doch hätte helfen müssen aber sich lieber in seine eigene Schwäche zurück zog und eine starke Frau haben wollte. Und da haben sich die beiden in ihrer Verzweiflung wohl gefunden: Meine Mutter, die ihre Traurigkeit durch eingebildete Stärke bekämpfen wollte und mein Vater, der sich klein und schwach fühlen wollte, damit ihn jemand beschützt und der Angst davor hatte, seine Wut gegen jemanden zu richten, den er vielleicht noch als Schutz brauchte.

Großvaters Mißbrauch

Meine Mutter war wohl von ihrem eigenen Vater abhängig, jedenfalls tat sie fast alles, was er wollte. Als sie mich zum ersten Mal zu meinem Großvater schickte, war meine Schwester auch dabei. Sie benahm sich, als ob unser ganzes bisheriges Leben nur für diesen Moment stattgefunden hätte. Sie hoffte wohl, dass wir beide in den Augen unseres Großvaters genauso stark eingeschätzt würden, wie sie selbst sich in seinen Augen fühlte. Sie meinte, dass es schwache Menschen geben würde, die noch die Hand lieben würden, die sie schlägt.

Vor allem ich wurde von meinem Großvater als Schwächling eingeschätzt, der eine starke Hand bräuchte. Damit begann ein entsetzliches Leben, gepeinigt von einem mich mißbrauchenden Großvater, einer Mutter, die mich verachtete und einem Vater, der Angst davor hatte, auf meiner Seite stehen zu müssen. Er war froh, als mein Großvater ihn dann eines Tages ins Vertrauen zog und ihm erklärte, wie wichtig es für mich war, dass er sich um einen Schwachen wie mich kümmerte.

Das ging dann eine ganze Zeit so, zum Glück lebten meine Großeltern ungefähr 1,5 Stunden Fahrtzeit entfernt. Aber manchmal mußte ich dort mehrere Tage übernachten und dann passierte es meistens in der ersten Nacht, dass ich gefesselt und drangsaliert wurde.

Kaffetrinken mit Goldrand

Eines Tages sagte mein Großvater zu meiner Mutter: “Der Dietrich ist ja schon ganz gut, aber dass er so zutraulich mit anderen Leuten umgeht ist noch nicht gut, aber ich habe da schon eine Idee, wie ich das machen kann.” Dabei lächelte er sein gütiges, überlegenes Lächeln.

Ich glaube, dass dieser Plan dann so aufging:

Es gab eine Familienfeier und meine Mutter sagte noch, dass es nichts machen würde, wenn wir mal bei einem Spiel den Ton angeben würden. Auf Nachfrage erklärte sie, wie das gemeint war. Als es dann soweit war, zogen sich die Erwachsenen irgenwann zurück. Es waren nur die leiblichen Kinder und die angeheirate Frau des toten Eberhard anwesend. Dann kamen sie irgendwann herunter und sagten: “So, nun spielt mal was” und wollten uns zusehen. Keiner tat was aber ich erinnerte mich, was die Mutter gesagt hatte und machte ein paar Vorschläge.

Das reichte dann schon und wir gingen hinein in die gute Stube. Dann drückte der Großvater erst dem Cousin auf die Schulter, aber der blieb gerade. Dann war ich dran. Als der Großvater mich dann auch herunter drückte, versuchte ich auch dagegen zu halten. Wenigstens so lange bis mir einer zur Hilfe kommen würde. Eine Tante rief dann: “Elisabeth, das darfst Du nicht zulassen.” Aber keiner sagte dann noch etwas und keiner kam mir zur Hilfe. Ich wollte aushalten und stark sein – aber dann rief meine Mutter etwas streng und ermahnend: “Dietrich!” und dann knickte ich ein. Und immer noch schritt keiner ein.

Ich schämte mich wahnsinnig und wollte niemanden ansehen. Tante Hildegard rief dann noch, dass das richtig wäre, weil meine Mutter ja irgendetwas mit dem Tod von Eberhard zu tun gehabt hätte und dass ich nun dem Cousin unterstellt würde, wäre daher nur gerecht. Ich war puterrot und wollte einfach nur weg sein. Der Cousin ist der Sohn von Eberhard, dem älteren Bruder meiner Mutter, der bei einem Verkehrsunfall (?) starb, bevor wir ihn kennenlernten. Der Cousin sollte mir dann etwas befehlen und ihm fiel nichts ein und er sagte etwas verlegen was und ich tat es. Ich ergab mich völlig und mir war alles egal und es sollte nur aufhören. Aber es hörte noch nicht auf.

Dann sollten wir zum Kaffeetisch schreiten und Großmutter sollte für mich das einfache Geschirr aus der Küche holen, denn das wäre meinem Stand gerechter. Das war nur für die anderen:

Ich aß dann ohne Appetit ein Stück Kuchen, das für mich ausgesucht wurde.

Als dann mein Vater dachten wohl alle, jetzt würde mir jemand helfen. Aber die ganze traurige Geschchte geht so, dass er als erstes fragte, ob ich schon wieder etwas angestellt hätte. Erst sagte keiner etwas und dann irgendjemand, dass das nicht so wäre. Dann setzte er sich dazu und aß seinen Kuchen und trank seinen leckeren Kaffee.

Es war schrecklich, schrecklich, schrecklich.

Dann fragte eine Tante, wohl um meinen Großvater zu besänftigen: “Erzähl uns doch noch einmal die Geschiche, was Du mit dem anderen gemacht hast.” Und dann erzählte er, dass es noch einen anderen gegeben hätte, im 3. Reich, der genauso hieß wie er. Dem hätte er gesagt, dass er sich nur die Haare wachsen lassen solle, dann würden sie kommen und ihn retten. Komische Geschichte und ich weiß bis heute nicht, was ich davon halten soll. Aber so war es.

Als ich meiner Mutter hinterher vorhielt, warum sie mir in den Rücken gefallen wäre, sagte sie: “Was wolltest Du denn tun? Willst Du denn wie Eberhard enden?” Darum denke ich, dass die Sippschaft das alles nicht zum ersten Mal erlebt hat.