Großpapa möchte das doch so gerne

Wenn ich mal wieder nicht zu Großvater wollte und gar nichts mehr half, sagten meine Eltern immer: “Großpapa möchte das doch so gerne.” Einige Monate, vielleicht insgesamt 14 bis 24 Monate in denen ich immer wieder zu meinem Großvater mußte.

Auf meiner Seite

Irgenwie war das auch eine der Phantasien, die mir da durch geholfen hat: Dass mein Onkel Eberhard, den ich nie gesehen hatte und von dem ich nur ein einziges Bild kannte, auf meiner Seite wäre. Dass er das ganze sieht, was er selbst auch schon durchgemacht hat und mich ansieht und weiß, dass das alles gelogen ist. Dass sie das alles erfinden, weil sie ein Opfer brauchen, um sich selbst stark zu fühlen. Dass ich nicht so schwach bin, wie alle sagen und so überflüssig und eigentlich auch keine Last. Jedenfalls nicht, wenn man keine Last aus mir macht. Dass ich wenn ich endlich sterben würde, als erstes ihm begegnen würde, weil er auf mich gewartet hat und sagt: “Du brauchst nichts zu sagen und Du mußt Dich nicht mehr verteidigen oder beschützen. Ich weiß alles und alles ist vorbei. Hier ist es schön, komm mit.” Dann würde ich endlich weinen können, ohne dass sie das gleich verändern wollen. Weinen können, ohne dass meine Mama gleich kommt und sagt: “Es ist gut dass Du weinst und jetzt wollen wir daraus mal Stärke machen.” (Irgendwie waren sie alle so dressiert, dass Traurigkeit Schwäche ist und man dann besser wegläuft, bevor Großpapa einen dabei ertappt, dass der eine traurig ist und der andere nicht rein schlägt.)

Natürlich habe ich mich auch geschämt, weil ich mir solche Sachen vorgestellt habe, die ja gar nicht stimmen. Aber es war trotzdem schön, mir das vorzustellen und es war ein kleines bischen Zuflucht, weil eben sonst keiner auf meiner Seite war. Ich habe diese Phantasien aber ganz und gar als meinen Fehler gesehen und als Zeichen meiner Schwäche. Und dann dachte ich, dass vielleicht ja auch mein Onkel da oben steht und mich auslacht und amüsiert den Kopf schüttelt, so wie mein Vater, weil ich so schwach bin und noch nicht einmal alleine damit klar komme. Aber das konnte ich nicht glauben und wenn, dann war es mir auch fast egal, weil ich ihn dann nicht brauche konnte. Und dann habe ich eben an jemand anders geglaubt, denn irgenwie war es gut, sich nicht so alleine zu fühlen und irgenwie konnte ich das nicht anders aushalten – egal ob ich nun schwach war oder nicht.

Nur nachher, als ich sie mich aussortiert hatten und ich weg sollte von zu hause, hat mich leider auch Eberhard verlassen, weil damit auch er keine Erfahrung hatte. Da war ich dann ganz alleine mit meiner Traurigkeit und Panik.

Aber heute versuche ich, dieser Eberhard zu sein für das traurige Kind in mir, dass das alles noch immer nicht verstehen kann. Das sich immer noch so schwach und einsam fühlt in dieser großen Welt der Großen, die so kalt ist und so fremd. Ihm zu leuchten und das zu sagen, was er mir damals in meiner Phantasie gesagt hat: “Du brauchst nichts zu sagen und Du mußt Dich nicht mehr verteidigen oder beschützen. Ich weiß alles und alles ist vorbei. Hier ist es schön, komm mit.”

Dressur

Als ich von Großpapa dressiert wurde, war er erst ausgesprochen freundlich und für einen Erwachsenen, sehr “auf meiner kindlichen Seite” und hatte Verständnis für alles. Er fragte mich, ob  meine Mutter denn immer freundlich zu uns wäre und wollte hören, dass sie das nicht war. Er meinte, ich könnte ihm das ruhig sagen und er war sehr verständnisvoll als ich ein bischen was erzähte. Aber ich erzählte nicht alles, ich wollte erst einmal abwarten, was er damit machen würde. Ich war mißtrauisch, weil ich wußte, wie sehr Mama ihn verehrte und mir das Ganze komisch vorkam. Es war aber trotzdem schön, jemanden zu haben, der einem glaubt und der auf meiner Seite war.

Dann wurde mir das Geschirr umgelegt und die Augen verbunden. Dann wurde ich angeschrieen und hin- und hergeschleudert. Die Angst schlug bald in Wut um und dann in Resignation. Ich machte, was er wollte aber innerlich abwesend und ohne Mühe. Ich dachte, der ist sowieso stärker und wenn es im Spaß macht, mache ich halt mit. Dann wurde es noch schlimmer und noch brutaler und aus der Angst wurde Todesangst und ich strengte mich doch an, dass er meine Unlust nicht merkt. Aber innerlich blieb die Wut und der Hass, nur gut versteckt und ich schwor mir, dass ich nie wieder zu ihm gehen würde. Schließlich mußte ich ihn noch in den Mund nehmen, es blieb die Angst vor ihm und ihm weh zu tun und seinen Zorn auf mich zu ziehen. Aber es blieb auch die Enttäuschung und die Wut und der Gedanke, dass es trotz allem bei Mama besser wäre als bei ihm.

Schrecklich war, dass meine Mutter mich dann zwang doch wieder zu ihm zu gehen und dann – wirklich unverständlicherweise – mein Vater auch dafür war. Dabei weigerten sich beide immer, mir zuzuhören, wenn ich erzählen wollte, was dort passiert war. Mein Vater meinte, er würde ja noch nachgeben, wenn ich mich nicht so bockig anstellen würde und dann versuchte ich es wieder mit ein wenig nachgeben aber das half auch nicht. Meine Mutter wollte, dass mein Großpapa einen starken Mann aus mir macht, aber darin lag soviel Verachtung für meinen Vater und ich konnte nicht verstehen, dass der da dennoch mit machte.

Dann hatte ich keine, auch keine innerliche Barriere mehr. Ich mußte alles machen, was er wollte und konnte mir nicht mehr sagen, dass er ja sowieso stärker wäre. Ich mußte dagegen halten, obwohl ich genau wußte, dass es genau das war, was er wollte, damit er mir zeigen könnte, dass er stärker wäre und damit ich mich dann wieder und wieder unterwerfen muß. Ich mußte mich ihm immer wieder unterwerfen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass er es war, der mich aus meiner eigenen Familie heraus gedrängt hatte und mir meine Mutter und meinen Vater genommen hatte.

Das Schlimme ist, dass man sich aufgeben muß und sich verraten muß. Und es ist bis heute schrecklich, das einzusehen. Dass es bis heute immer wieder notwendig ist, das bischen Selbstbewußtsein was er einem gelassen hat auch noch aufzugeben und auch noch den eigenen Anteil an der ganzen Sache einzusehen, damit man die Panik und die Angst vielleicht irgendwann nicht mehr haben muß.

Warum kann das sein: Das alle gegen ein kleines Kind sind: Die Eltern, der Großvater und dann am Schluß sogar noch die Geschwister. Dass alle meinen es wäre die Schuld des kleinen Kindes, weil es zu schwach geboren wurde oder weil es irgendetwas gemacht hatte, von dem ihm keiner sagen konnte, was das wäre.

Und dann war es am Ende am Anfang doch alles der Großvater

Der quälte, körperlich, bis ich nicht mehr konnte und nicht ein noch aus wusste aus Angst. Durchgeschüttelt und hin- und hergeworfen, buchstäblich und beschimpft. Blind vor Angst und verbundenen Auges und allein gelassen und ausgeliefert und verraten von der eigenen Mutter. Seiner Tochter. Gedemütigt ohne überhaupt über Mut nachgedacht zu haben, entehrt ohne überhaupt einen Begriff von Ehre zu haben. Ausgelöscht. Ohne Verstand und ohne Vorstellung warum und was und wie lange. Ohne Idee davon ob überhaupt ein Ende sein kann und was dann noch da wäre. Nur noch Angst und nicht wissen und Leere und Verzweiflung und Erwartung des absoluten Endes weil ein “danach weiter” unvorstellbar ist. Und dann doch eine Art Ende. Und dann noch ein wenig nachgeben, aber kaum noch schlimm. Nur durch und durch gebunden zu einem willfährigen Bündel, das anstelle des Atems die Lust des anderen in sich einführt und ihn geniessen lässt die eigene absolute und vollkommene Hingabe und sich füllen mit dem Fremden und sich nicht erlauben – keinesfalls – zu denken, dass es nicht richtig sein könnte. Nicht das, was doch die Erlösung und Erleichterung und Befreiung von der Qual ist. Das muss doch das Richtige und Gute und die Wahrheit sein.

Und dann ist plötzlich doch alles zu Ende und alles soll gut sein und zu meinem eigenen Besten und überhaupt: Jetzt gehen wir erst einmal Kuchen essen und hier ist die Schokolade. Und so endete mein Leben und es wurde die große Lüge.

Immer wieder. Und immer wieder neu: Wo ist mein Fehler?

Das Kind steht da noch heute in mir mit verbundenen Augen und ist mit einer Leine versehen und mit den Händen am Körper gebunden und mit den Füßen gebunden, so daß nur kleine Schritte möglich sind. Es hat zuerst Zutrauen zum Großpapa, den es ja kennt. Doch dann beginnt der Großpapa zu schreien und zu schimpfen und das Kind zieht den Kopf ein. Es kriegt weiche Knie und fängt sich verzweifelt an zu fragen, was es falsch gemacht hat. Das Kind will schreien, aber dann wird es erst recht bestraft und beschimpft. Es fragt sich immer weiter was es falsch gemcht hätte und was der Fehler ist während es Schweißausbrüche bekommt und die Angst am Rücken hochwallt. In den Ohren fängt es an zu flirren und es ist darin laut auch wenn der Großpapa mal nicht schreit. Das Kind zieht die Schultern immer weiter hoch, um sich zu verbergen. Mehr ist nicht möglich als kleines Kind, mit einer Leine gefesselt. Aber es wird dennoch hin und hergehetzt und geschleudert und kann nicht so schnell folgen. Die Angst ist übermenschlich groß und das Kind versucht immer kleiner zu werden. Aber es wird immer weiter beschimpft und es versucht etwas richtig zu machen aber es ist alles falsch. Das Kind fragt sich immer verzweifelter, was falsch ist und beginnt mit dem bischen, was ihm in der Hetze bleibt, immer verzweifelter an sich zu nagen und sich selbst und den Großvater und die ganze Situation zu hassen, weil ihm einfach nicht einfällt, wie es etwas richtig machten könnte. Es fühlt sich immer schuldiger und falscher. Es soll alles bloß aufhören und nie wieder passieren, aber es gibt bereits eine Ahnung, dass das nicht so sein wird.

Die Tortur dauert unendlich lange. Das kleine Kind verliert darin immer wieder sein Leben. Bis es endlich lieb sein darf und dem Großpapa seine Wünsche erfüllen darf.

Unten steht die Mama und nimmt das Kind in Empfang. Sie sagt, dass es schrecklich gewesen wäre, die Schreie zu hören. Aber Großpapa lächelt und sagt ihr, dass sie es ja auch so gewollt habe und da das Kind nun mal nicht so oft berim Großpapa ist, muß er schon auf einen Schlag etwas mehr machen. Dann lächelt er das Kind an und sagt: “Dietrich, Du findest das doch richtig und verstehst das, oder?” Und das Kind beeilt sich zuzustimmen aber es schwört sich, dass es nie wieder dorthin gehen wird.

Das schrecklichste an dieser Geschichte ist, dass es tatsächlich noch nächste Male gab. Als ich hörte, dass ich wieder zu Großpapa soll, habe ich mich bis zu dem dafür geplanten Tag mit Schimpfen, Schreien, Lieb sein dagegen gewehrt. Aber meine Eltern blieben hart. Ich konnte das nicht verstehen, aber es half alles nichts. An dem Tag wurde es immer schlimmer aber irgendwann sagten meine Eltern dann zu mir, dass ich mitkommen solle aber ich müsste dort nicht übernachten. Da ich nicht alleine zu hause bleiben konnte (4 Jahre?) willigte ich ein. Im Auto wurde mir dann eröffnet, dass die Planung nun einmal so wäre, dass ich dort bleibe und übernachte und damit Schluß. Ich war grenzenlos enttäuscht und wütend – ich weinte und schrie und versuchte und versuchte alles, aber es half alles, alles nichts. Ich mußte würgen bei dem Gedanken an den triumphierenden Großpapa. Auch meine Schwestern waren erst auf meiner Seite, aber ich erinnere mich noch, dass ich irgendwann merkte, dass sie ruhiger wurden und nichts mehr zu meiner Verteidigung sagten. Da merkte ich, dass ich alle einfach nur störte und verstummte und legte mich innerlich auf meine riesengroße Traurigkeit und alles nahm seinen Lauf. Immer und immer wieder.

Später hat mir meine Mutter einmal gesagt – ich weiß nicht warum, daß sie mich gebrochen hätten. Ich denke, dass mein Großvater mich unterworfen hat aber dass meine Eltern mich damals tatsächlich gebrochen haben.