4. Wie war das und wie wurde ich: Mißbrauchte Gefühle

Bye Leid.

Nachdem ich genug gesehen hatte

Irgendwann sagt der kleine Junge: “Ich habe genug gesehen.”

Nachdem es endlich alles vorbei war und er endlich in die Welt hinaus konnte, ohne dass einer hinter ihm her war: Ohne dass ihm der Großvater sein Leben stehlen wollte, weil er selbst keines gehabt hatte. Ohne dass ihn die Mutter dem Großvater opfern wollte, um zwanghaft böse zu sein, um die Schuld die sie sich aufgeladen hatte oder die ihr von ihrem Vater aufgeladen worden war, nicht als Schuld sehen zu müssen sondern als Verdienst. Ohne dass ihm der Vater noch einen mitgeben wollte, damit das Werk vollendet wäre und das Kind sich nicht mehr berappeln würde und die Gefahr, dass das eigene Versagen ans Licht kommen würde, für immer gebannt wäre.

Nachdem ich es endlich selbst probieren konnte – ohne die bedrohlichen Schrecken, die von überall her zu kommen schienen. Als ich endlich frei war von dem Gezeter und wenigstens äußerlich Ruhe einkehrte. Endlich selbst probieren, wie es denn wirklich war.

Nachdem ich feststellte, dass es alles noch anders war: All die guten Vorsätze, es alles ganz anders zu machen, halfen nicht. Es war einfach alles zu fremd und die verzweifelten Versuche am Steuer zu reißen, brachten nicht die grundlegende Erneuerung, die dann alles richtig machen würde. Die Vergangenheit war tief vergessen, aber wohl dennoch präsent. Es war mühsam Schritt für Schritt zu lernen und zu begreifen, wie das Leben wirklich war. Dass es nicht so gezwungen und verzweifelt wie die Eltern war, aber dass es die erträumte Rettung aus der eigenen Verzweifelung eben auch nicht gab. Es mußte alles probiert werden: Die Kehrung nach außen zu Freunden und Alkohol, die Resignation in Ziellosigkeit, der berufliche Ehrgeiz und Erfolg, die Zweisamkeit mit Frauen, schnell wechselnde Partner, eigene Kinder und schließlich die Erkenntnis, dass am Ende alles leer war. Das war der Moment als der kleine Junge sagte: “Ich habe genug gesehen,” und er fügte hinzu: “ich will gehen”.

Es folgte das Erschrecken des älteren, der die Niederlage nicht zulassen wollte und nach anderen Auswegen suchte. Aber alles argumentieren half nichts: Die Lust und die Hoffnung auf Neues war verbraucht. Wenn das Kind keinen Sinn mehr in dem bunten Treiben sehen kann, dann will es nach hause und endlich Ruhe haben und nur noch schlafen, für immer.

Dann mußte ich die Reißleine ziehen, aussteigen – wenigstens für einige Wochen. Lernen was andere für einen tun können: Einem den Rücken frei halten für einige Zeit, einem zuhören bis man selbst nicht weiter weiß, Medikamente die helfen Schlaf zu finden und ein wenig Erleichterung von der großen Angst bringen, dass das was ich gesehen hatte, wirklich schon alles gewesen sein könnte. Aber viel wichtiger war es zu lernen, dass die anderen nicht helfen können, die eigenen Erkenntnisse und Schlußfolgerungen zu ziehen. Natürlich gibt es immer die, die einem mit guten Ratschlägen zur Seite stehen wollen – so wie damals mein Großvater. Aber genau wie damals ist das immer nur Eitelkeit, die vorgibt etwas von der Wahrheit zu verstehen. Aber mein Leben hing davon ab, dass ich die richtigen Schritte wählte und ich hatte keine Zeit alles mögliche auszuprobieren. Und ich hatte schon genug gesehen um zu merken, was echt war und keinen der Strohalme ernst zu nehmen. Aber das eigentliche Problem blieb, dass die Hoffnung, dass das Leben doch noch irgendwo die Rettung und die dauerhafte Freude versteckt haben könnte, einfach sehr klein geworden war. Dass dann weiter alles leer blieb und ich nichts mehr finden konnte, mit dem ich die sinnlose Leere hätte füllen können.

Am Ende blieb mir nur ich selbst und ich begann dem Bedürfnis, das ich schon immer hatte, mich nach innen zu wenden, den Namen “Meditation” zu geben, damit es gut und richtig wäre und kein Versagen. Wenn die ganze Angst und Hoffnungslosigkeit durch den verzweifelten Versuch “dazu zu gehören” nicht mehr vertrieben werden konnte, mußte ich wohl alle Zeit, die mir dafür blieb damit zubringen, diese Angst und Hoffnungslosigkeit kennen zu lernen. Das schien mir die einzige Möglichkeit sie soweit zu besänftigen, dass sie mich nicht dann überfielen, wenn die äußeren Umstände sie noch stärker werden liessen und ich ihnen dann erst recht nicht gewachsen wäre. Das ist nun ziehmlich genau 2 Jahre her und bis heute scheint dieser Weg der richtige gewesen zu sein.

Vielleicht ist es so traurig, wie es mir damals schien: Vielleicht ist das Leben einfach nur leer und wir sind dazu geboren, zuzusehen, wie sich gute Momente ereignen, nur um dann auch erleben zu müssen, dass nach einem besonders schönen Moment der Schmerz des Verlustes umso größer ist. Vielleicht ist dieses Gefühl, dass ich schon als Kind hatte, einfach die Wahrheit des Lebens. Eine Wahrheit der ich damals sehr nahe war, aber die zu erkennen ich mir damals nicht zutraute. Zumal meine Eltern doch alle Energie darauf setzten ihr Glück auf ganz andere Weise zu finden. Eine traurige Wahrheit, mit der ich niemanden behelligen wollte, weil doch alle fröhlich sein wollten und möglichst viel Freude und Spaß haben. Eine Wahrheit, die ich deshalb beiseite legte, um vielleicht auch irgendwo da draußen dauerhaft Freude und Spaß finden zu können. Aber vielleicht wird aus dem Versuch dauerhaft Freude und Spaß zu haben, schnell eine sinnlose Anhäufung von Spaßfaktoren und ist dann ohne deren empfundenen Verlust sinnlos. Vielleicht kommen darum Taurigkeit, Schmerz, Verlust und Mangel – als notwendige Kehrseiten der Freude – der Wahrheit näher als Spaßmaximierung. Vielleicht ist es gut und richtig diese Kehrseiten des Lebens zu suchen und in aller Fülle zu erleben, weil diese auf dem Weg liegen, der zur Wahrheit führt. Vielleicht war das aus der Taurigkeit und dem Schmerz des abgewiesenen Kindes geborene Gefühl, mehr als die meisten anderen zu wissen, gar nicht so falsch wie es mir damals schien. Und vielleicht besteht am Ende sogar das Glück aus diesem Weg zu dieser Wahrheit und kann dort doch noch gefunden werden, wenn das Kreiseln zwischen Spaß und Langeweile, Gewinn und Verlust, Reichtum und Mangel, Gesundheit und Schmerz, Freude und Traurigkeit, Stärke und Schwäche endlich einen Level höher steigt.

Weißt Du wie das ward?

Wenn die Generation meines Großvaters am Übergang von der kleinen Gesellschaft, die in kleinen untereinander nur schwach vernetzten Gemeinschaften existierte, zu der großen Gesellschaft lebte, bei der Massenkommunikationsmittel und Reisemöglichkeiten zu einem schnellen und unaufhaltsamen Kommunikationsfluss führte. Wenn das so war, war das Verhältnis des Einzelnen zu dieser neuen Gesellschaft mit Angst verbunden: Der Einzelne der dann in Konflikt mit der Geseschaft geriet, weil sie etwas das er getant hatte oder tat (zum Beispiel weil er schwul war) verurteilte, hatte nicht mehr die Möglichkeit die eigene kleine Gesellschaft zu verlassen und in einer anderen kleinen Gesellschaft Ruhe zu finden und aus seinem inneren Erleben und der äußeren Reaktion zu lernen und einen Schritt weiter zu gehen. Weder hatte der Einzelne gelernt in diesen veränderten Bedingungen zu leben, noch hatte die Gesellschaft die notwendige Tolaranz gelernt ohne die so große Organisationen wie es moderne Nationen sind, nicht funktionieren können.

Wenn das der Hintergrund war, vor dem sich individuelle Schicksale abspielten und wenn dann Großpapa im Ersten Weltkrieg an der Ostfront war und dorthin von einer größer gewordenen und sich dadurch auch stärker fühlenden Nation geschickt worden war, die an sich selbst und an die Tapferkeit ihrer Söhne glaubte; wenn dann die Realität an der Ostfront schrecklicher war, als es sich die Menschen bis dahin hatten ausmalen können, wenn die Gewalt der neuen Waffen so viel größer war, als die Kraft und Tapferkeit eines einzelnen Menschen; wenn Tapferkeit angesichts dieser Waffen eigentlich sinnlos wurde und das Selbstbild des starken, tapferen Mannes keinen Sinn mehr hatte und aus seiner Macht Ohnmacht wurde; wenn dann die Kapitulation folgerichtig war, aber die Nation, die auch die Gesellschaft war, diese Lehre nicht gezogen hatte, weil es bis dahin nichts dergleichen gegeben hatte; wenn dann die Frauen auf die heimkehrenden Männer herabsahen, weil die Familien die Heimat verlassen mußten, und die Väter auf die Söhne herabsahen, weil sie die Siege, die sie selbst errungen hatten nicht wiederholen konnten, sondern ohne Sieg heimkehrten obwohl die Nation doch so viel stärker als früher war – Wenn das alles so war, dann mußte die Kapitulation als von Fremden angezettelt angesehen werden, damit dann wieder ein Einklang mit den Frauen und Vätern erreicht wurde. Der neue Konsens bestand dann darin, dass die Kapitulation als Feigheit begriffen wurde. Derjenige, der weiter war als der Rest der Gesellschaft, weil er erleben hatte müssen, wie grausam die neue von ganz anderen Waffen und viel mächtigeren Strukturen geprägte Wirklichkeit war und wie wenig Tapferkeit angesichts dieser Kräfte bedeutete, mußte diese Erlebnisse leugnen, wenn er nicht in erneuten Konflikt mit denen, die er nicht hatte verteidigen können, geraten wollte. Es gab wohl nur wenige in “Deutschland, einig Vaterland” die damals die Kraft und gleichzeitig Weisheit hatten, diesen Konflikt auszuhalten.

Für den einzelnen vielleicht schwulen und mit sich selbst im Unreinen befindlichen jungen Mann, der nach den schrecklichen Erfahrungen an der Ostfront heimkehrte, war die Wucht mit der er auf sein Schicksal geworfen wurde, wohl zu groß, als das er hätte fähig sein können den richtigen nächsten Schritt zu tun. Die neue Gesellschaft kannte auch kein Entkommen mehr und dann unterwarf er sich eben den engen, rückwärts gewandten Ansichten der anderen, die nicht verstanden hatten, dass die alten Zusammenhänge zwischen Männlichkeit, Tapferkeit, Kraft, Ehrlichkeit und Macht keine Bedeutung mehr hatten. Damit, dass er sich ihre überkommenen Vorstellungen zu eigen machte, mußte er auch die Schuld an der Niederlage auf sich nehmen, und damit auch ihre Verachtung gegenüber ihm und seiner Angst vor der Grausamkeit der Ostfront. Er, der sich bis dahin doch eigentlich nichts hatte zuschulden kommen lassen, mußte alles oder wenigtens fast alles verraten und verleugnen, was ihn selbst ausmachte.

Ich denke, dass Großvater die Lektion schnell und voller Angst begriff, eine erneute Demütigung wollte er nicht erleben. Er akzeptierte die eigene Schuld ohne den berechtigten inneren Trotz je vollständig besiegen zu können. Die Nation wollte dann die Wiedergutmachung und im dritten Reich war er gehorsam und mit der Konsequenz desjenigen, der sich selbst vergessen möchte, in der Gemeinschaft der grausamen Täter. Einer Gemeinschaft in der es wohl viele gab, die zuvor in ähnlicher Weise Opfer geworden waren. Als auch das um war, und selbst die ganze Grausamkeit gegenüber seinem eigenen Sohn und der ganze verzweifelte Zwang nicht geholfen hatte gegen die erneute Niederlage der Nation der Väter; da war er längst viel zu weit gegangen, als dass er von einem Zurück hätte träumen können.

Er wurde dann als Mensch immer weniger in seiner dicken, leeren, traurigen, kalten Hülle, in der er sich die Welt einbildete und sich nach Berührung, Tapferkeit und Befreiung sehnteSeiner engen und kalten Hülle, die er sich vielleicht nicht selbst auferlegt hatte, die er aber längst selbst aufrecht erhielt und aus der er nur in krampfhaft herbeigeführten ekstatischen Ergüssen mit Unschuldigen kurzzeitig ausbrechen konnte. Nur das gab ihm die Macht die alten Begriffe und Zusammenhänge für einen bis zum Orgasmus gesteigerten Moment wieder zum Leben zu erwecken und – wenn auch nur sehr kurz – endlich aus ihnen auszubrechen.

Wie kann ich ihnen helfen zu beweisen, dass sie Recht haben? Damit sie mich endlich in Ruhe lassen

Dass es schon so war, dass ich mich als Kind immer wieder verraten habe und mich auf die Seite des Stärkeren (Großvater) geschlagen habe, auch gegen mich selbst und das was ich noch kurz vorher gewollt oder geglaubt habe. Dass ich Angst vor diesen Situationen hatte, in denen sie mir wieder beweisen wollten, dass sie das mit mir machen können. Dass mich das alles so unendlich traurig gemacht hat. Dass ich so viel Angst vor ihnen hatte und mir immer wünschte, dass Papa auf meiner Seite wäre. Aber auch der hat mich in solchen Situationen immer wieder verlassen. Dass ich rumgelaufen bin und das meine Botschaft war an die anderen: Dass es keinen Sinn macht dagegen anzustehen, weil sie am Ende doch stärker sind als man selbst und man sich daher besser unterordnen muß. Dass sie mir das einfach so beigebracht haben. Dass das schlimmer war, als wenn sie mich nur einfach streng erziehen wollten, weil sie es für nichts gemacht haben, außer dafür um mir zu zeigen, dass ich mich nicht wehren kann. Weil sie mir beibringen wollten, dass ich schwach bin. Weil sie mich verachten wollten. Weil sie glauben wollten, dass man das mit ihnen nicht machen könnte. 

Dass es vielleicht das war, was wirklich gemein und hinterhältig war: Dass sie mich zwangen mich immer wieder vor ihnen zu erniedrigen. Dass es eine Sucht war, der sie immer wieder nachgeben mußten. Dass ich da mitspielen mußte und sie mußten immer noch dreckiger und gemeiner werden, um sich selbst immer wieder neu und noch besser und endgültiger zu beweisen, dass ich der Schwache war und nicht sie. Weil das, was sie mir zumuteten nur von jemandem akzeptiert werden könnte, der wirklich schwach ist. Aber dann kamen ihnen immer wieder Zweifel daran, weil sie schon merkten, dass bei dem Spiel immer sie die Erbärmlichen waren. Und ich hatte einfach aufgegeben, weil ich wußte, dass sie am Ende vor nichts zurück schrecken würden. Wer war also so abnorm? Das kleine Kind, das keine Wahl hatte und die Situation nehmen mußte wie sie war? Oder der, der die Situation immer wieder schuf? Das gemeine war, dass sie mich glauben liessen, dass ich eine Wahl gehabt hätte. Nur um den ganzen Dreck und die ganze klägliche Scheiße irgenwie zu rechtfertigen.

Glaube

Die Angst, dass es doch alles falsch sein könnte. Dass es eben doch nicht richtig ist, an das Herz zu glauben, das so einsam in mir schlägt, trotz der ganzen Traurigkeit und des ganzen Unglücks. Das einfach nicht aufhört weiter zu schlagen. Sogar wenn ich mit allem, was ich sonst von mir kenne, längst aufgegeben habe und nur noch will, dass alles endlich aufhört. Sogar dann schlägt das Herz ruhig und beharrllich weiter und gibt mir den Takt zu einer ruhigeren, einfacheren iund unaufgeregteren Melodie.

Aber wie kann das sein, dass es richtig ist, am Leben teilnehmen zu wollen, wenn doch alle immer nur vor mir weglaufen? Wenn ich doch alle immer nur störe, kann es dann immer noch richtig sein, weiterleben zu wollen? Ich habe das als Kind nur schwer entscheiden können und fühle mich noch heute unsicher dabei. Am Ende kam ich zu dem Schluß, dasss ich es erst noch einmal versuchen muß, und dass ich später, wenn ich groß bin, dafür sorgen muß, diese Entscheidung, die für andere ja eine Zumutung war, nachträglich zu rechtfertigen. Ich wollte ja niemandem zur Last fallen und habe mein Unglück, wo ich konnte, verborgen. Aber ich hätte mir so sehr gewünscht, dass auch nur einer der wenigen, die mitbekommen haben, wie gemein und herablassend mich meine Eltern behandelten, sich nicht abgewandt hätte. Aber irgendwie ist das fast nie passiert und wenn dann immer nur heimlich. War dieser Wunsch wirklich so abwegig? War das alles wirklich nur deswegen, weil ich eine Schande war für alle, die mit mir zu tun hatten? Kann das Leben so jemanden hervor bringen, der so wenig in die ganze Welt hinein passt? Wenn ja: Warum bin gerade ich das geworden? Und wenn nicht: Wann habe ich den großen Fehler begangen, der das alles in Gang gebracht hat? Was hätte ich anders machen müssen? Und wenn das egal ist: Gibt es etwas, das ich jetzt anders machen kann, damit das endlich aufhört? Damit wenigstens einer bei mir ist und auf meiner Seite? Nicht nur mal schnell eben, wenn es keiner merkt sondern auf den ich mich – wenigstens manchmal, wenn es wieder so schlimm über mich hereinbricht – verlassen kann? Damit ich eine Erinnerung habe daran, wenn ich es wieder alleine aushalten muß? Wie kann ich irgendjemanden dazu bringen, das zu tun?

Das ist der Punkt an dem mir nur der Glaube weiter hilft: Der Glaube an das Gute, das ich dann nur noch an einer einzigen Stelle in meinem ganzen Universum finde und zwar in meinem Herzen. Dieser Glaube ist oft nicht viel – aber es ist das einzige was geht und also versuche ich es. Bislang konnte es immer wieder irgendwie weiter gehen: Nicht weil ich stark war, ganz und gar nicht, sondern mit viel Improvisation und verzweifeltem Strampeln. Aber irgendwie habe ich immer überlebt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aber wenn ich mich auf meinen Glauben an dieses Gute in meinem Herzen verlasse und mich von nichts anderem und auch nicht vor der riesengroßen Angst in meinem ganzen Körper irre machen lasse, kann ich manchmal ein kleines Stück von dem ganzen Schlamassel hinter mir lassen. Meine Hoffnung ist, dass ich dann hindurchschreite und dann sehe ich ja irgendwann auch wieder Gutes an anderen Stellen meines Universums. Das ist der Ausweg, den ich irgendwann gefunden habe, als die große Angst vor einigen Monaten zurück zu mir kam. Ich weiß nicht, ob es vielleicht andere Wege gibt, aber ich habe nur diesen gefunden. Für jemanden wie mich ist es wichtig, dass es diesen Weg in mir gibt und dass er mir offen steht, auch wenn niemand anders für mich da ist.

Kann nicht einfach einer die Angst von allen tragen?

Ich habe als Kind erlebt, wie alle auf einmal aufgehört haben, sich für mein Wohlbefinden oder überhaupt für mein Befinden zu interessieren und mich innerlich verstehen zu wollen. Auf einmal – für mich unbegreiflich – hat meine ganze Familie angefangen, alles was ich tat in Schubladen zu packen ohne es überhaupt richtig anzusehen. Die Schubladen hießen: “Der Junge ist nun einmal schwach” und “Der Junge versucht uns auch schwach zu machen, mit seiner Wehleidigkeit” und “Der Junge hat noch nicht erkannt, dass er schwach ist und tut so, als ob er stark wäre und dann kann er sich auch nicht bessern”. Alles war entweder schwach oder schwach. Ich bin dann auch gegenüber mir selbst abgestumpft und zu einer Art Maschine geworden, die je nach Stimmung die Schubladen gehorsam vollmacht und das Interesse der anderen an meiner “Kategorisierung” in Schubladen befördert und entsprechend der Erwartungen agiert (dann ist endlich ein wenig Ruhe) oder stört und bockig ist und die Einsortierung etwas schwieriger macht. Aber hinbekommen haben sie das immer und es war mir einfach nicht möglich, ihr Weltbild und vor allem ihr Bild von mir irgendwie anzukratzen. Daher war alles sehr beliebig und sehr dunkel und teilnahmslos und eigentlich egal. Ich denke, dass ich damals meine heutige, abfällige und unbeteiligte Sicht auf die Welt entwickelt habe.

Und die Großen gingen auch selbst mit sich so um: Genauso teilnahmslos und sich selbst diesem System untewerfend. Alle: Großpapa, Mama und Papa. Ihre Gefühle zu mir wie Wut (Schimpfen) oder Liebe (Lob) waren dem System untergeordnet und wurden  eher nach ihren Interessen eingesetzt und benutzt, als dass sie Ausdruck echter Gefühle waren. Ist der Vater wirklich wütend auf den kleinen Jungen, weil der ehrliche und deutlich sichtbare Angst davor hat, zu seinem Großvater zu müssen? Ist ein Großvater wirklich wütend auf die Angst des kleinen Jungen, der in berechtigter Todesanst vor ihm steht und nicht aus noch ein weiß? Ist der Großvater wirklich liebevoll zu seiner Tochter, weil sie falsch und gemein zu allen anderen ist? Für mich sind das alles mißbrauchte Gefühle. Weil sie wie echte Gefühle verwendet werden: mit Schreien, Weinen und allem was zu Gefühlen gehört und bei dem Gegenüber auch die gleichen Reaktionen wie Angst oder Mitleid hervorrufen, aber sie sind nicht wahr sondern herzlos übergestülpte Masken.

In dieses System gehörte dann, dass meine Eltern ihre Angst vor Großpapa “Achtung”, “Respekt” oder gar “Demut” nannten und meine Angst vor ihm “Bockigkeit”, “Egoismus” und vor allem “Schwäche”. Ich habe wirklich alles versucht, irgendwie in dieses System zu passen und hätte alles darum gegeben, meine Angst genauso wie sie nennen zu dürfen. Ich hätte auf mich genommen alles zu sein was sie wollten: schwach oder stark, gehorsam oder ungehorsam. Ganz die Schublade in die sie mich stecken wollen, wenn das nur aufgehört hätte mit dieser ständigen Kritik an mir und dass ich nun aber wirklich alles falsch machen würde. Ich wollte meinen Eltern ja auch helfen und habe versucht meine Angst zu besiegen. Und nach außen hat das auch funktioniert, so dass man mein innerliches Zittern, Schreien und Weinen und die ganze unendliche Verzweifelung nicht sehen konnte. Aber was ich nie so richtig hinbekommen habe, war die Angst innen in mir drin nicht mehr zu haben, und ich fragte mich, ob das sein kann, dass man so lange an etwas arbeiten muß ohne das Gefühl, dass es richtig ist, bis man irgendwann durch ist und es dann tatsächlich richtig ist. Wie hätte ich das wissen können als vierjähriger, wenn ich es heute noch nicht einmal weiß?

Wenn ich dann bei Großpapa war, dann wollte er auf einmal gerade, dass ich die Angst hatte und vor allem, dass ich mich auch wehrte. Das war dann das völlig Unverständliche: Dass ich mich zu hause nicht wehren durfte und still halten mußte – da wo ich noch eine Chance gehabt hätte, etwas zu ändern. Dass ich dort noch nicht einmal sagen durfte, dass ich nicht zu Großpapa wollte. Aber wenn ich dann bei ihm war, mußte und sollte ich meine Angst heraus holen und versuchen wegzulaufen und mich dafür demütigen lassen oder auf irgendeine Art Widerstand zeigen, damit dieser gebrochen werden konnte. Sonst hätte es wohl keinen Spaß gemacht und die Machtdemonstration hätte nicht funktioniert. Und wenn ich das mit meinen Eltern besprechen wollte, hatten sie keine Zeit. Es war ein riesiges System aus Lügen und Verstellungen. Ein Teil von mir (und vielleicht auch von den anderen?) hat das immer gewusst, aber es war zu schrecklich um es zu glauben und also tat ich das als “zu unwahrscheinlich” ab.

Dabei war das ganze Lügengebäude am Ende nur ein einziges, wahres Gefühl: Angst. Angst die keiner haben wollte und daher dem Kind auf die Schultern packte. Eine für mich unverständliche Angst der Großen vor dem Alten, der ihnen doch gar nichts tun konnte. Eine für mich unverständliche Angst des Alten vor den eigenen Gefühlen und davor zurück gewiesen zu werden. Und die Angst des Alten und der Eltern vor Entdeckung, die ich auch nicht verstand, weil ich das ja alles für richtig hielt und auch niemals gewagt hättee, irgendjemand davon zu erzählen. Ich verstand nicht, dass sie das nicht sahen und trotzdem Angst hatten, und manchmal versuchte ich sie zu beruhigen, weil ich ihnen helfen wollte und hoffte, dass es dann besser würde. Zu dieser ganzen unverständlichen Angst der Großen, die sie zu meiner Angst machten, kam dann noch meine eigene Angst vor meiner Zukunft: Ich konnte mir nicht gut vorstellen, dass man sich so lange gegen die eigenen Gefühle richten mußte, um das richtige zu tun. Und ich merkte, dass ich mich immer mehr veränderte und nur ein Teil von mir konnte mich selbst davon überzeugen, dass das der richtige Weg war. Wie gerne hätte ich mich selbst restlos davon überzeugen wollen, aber es blieb immer die Angst davor, dass das alles falsch sein könnte.

Es gab niemanden, der diese Angst wenigstens mit mir geteilt hätte. Wenn ich versuchte bei meinen Eltern Hilfe oder Rat zu finden und ihnen von diesen Änderungen an mir und meinen Zweifeln berichten wollte, um mich wenigstens beruhigen zu lassen, wurde ich an meinen Großvater verwiesen. Bei dem bekam ich dann schon die Bestätigung, dass das alles richtig wäre – aber ich wußte auch, dass er die Quelle all dieser Veränderungen war und ich konnte ihm nicht wirklich glauben. Ich habe mich selbst wirklich nicht dafür gemocht, dass ich immer alles so kompliziert mache und nicht einfach Vertrauen haben kann, aber es war nun einmal so und ich mußte damit leben.

Irgendwie ist es bis heute diese Angst vor meiner eigenen Zukunft, die mich nicht zur Ruhe kommen läßt. Dabei habe ich die Mitte meines Lebens vermutlich längst überschritten. Aber die Angst hört nie auf und ich konnte bis heute niemanden finden, an den ich diese Angst abgeben könnte. Vielleicht muß diese Angst sogar immer größer werden, je näher ich an mein Ende komme und an meinem Leben nichts mehr zu ändern ist. Vielleicht ist es das, was ich und jeder von uns selbst schaffen muß, egal wie groß der Schrecken ist, den das Leben einem auf den Kopf werfen kann, in der Vergangenheit oder in der Zukunft: Das Leben verlangt auch noch von einem, dass man das aushält, den Kopf nicht einzieht und die Angst aushält, weil es die Angst davor ist, an dem eigenen Leben zu scheitern. Dass man diese Angst annimmt und nicht verzweifelt nach einem anderen sucht, dem man die Schuld an allem und dann auch gleich noch die Angst geben könnte. Dass man die Angst davor, endgültig zu scheitern und doch noch an dem ganzen Schrecken vollständig kaputt zu gehen, aushält und ansieht und begreift. Und dann am Ende hinter der ganzen Angst und Traurigkeit in Dankbarkeit sieht, was der eigene Sinn und die eigene Bestimmung ist.

Ich denke, dass alle Religionen dazu sagen, dass es dafür in diesem Leben erst zu spät ist, wenn man tot ist.

(PS: Eigentlich machen das viele Eltern, dass sie ihren Kindern Liebe oder Wut “vorspielen”, um den Kindern “eine Lehre zu erteilen” – meistens sehr gut gemeint, um ihre eigene Weltsicht zu transportieren. Aber ich kann mich erinnern, dass ich so etwas als Kind ganz genau merkte und befremdlich fand und mir die Erwachsenen eher Leid taten. Die Kinder spielen dann meistens mit – aber nur um dem Erwachsenen zu helfen oder ihm einen Gefallen zu tun. Das Kind hat eigentlich überhaupt kein Interesse an “vorgekauten” Lebensweisheiten und will nicht “trainiert” werden. Es ist nur an der Wahrheit interessiert, die es in den wahren Gefühlen der Eltern finden kann. Aber das ist nicht mein Thema.)

Mißbrauch der Gefühle

Wenn ich bei Großpapa ankam, ging es immer erst so los, dass er mich gut fand und lobte. Aber dann fing er nach einem Tag oder so an, an allem was ich tat etwas auszusetzen und mich immer kleiner zu machen. Ich gab mir ungeheure Mühe, alles oder wenigstens irgendetwas richtig zu machen, aber es gelang mir einfach nicht. Ich konnte einfach nicht “stark” sein, immer war irgendetwas falsch. Aber wenn ich dann weg war und wieder kam, war er denke ich ehrlich davon überzeugt, dass er einen guten, kleinen Mann aus mir gemacht hatte. Er war angetan davon, dass ich wieder da war und verklärte mich wohl auch. Aber dann konnte ich nach kurzer Zeit seinen Ansprüchen wieder nicht gerecht werden und das war dann natürlich meine Schuld und dann ging das ganze Theater und meine große Hilflosigkeit und Traurigkeit wieder von vorne los. Ich war einfach nicht in der Lage, den Sinn in diesem Hin und Her zu verstehen und habe das als meine eigene Unfähigket anerkannt. Das war die einzige Chance, es vielleicht irgendwann doch noch verstehen zu können und eine Lösung zu finden.

Ich habe immer mehr das Gefühl, dass der Täter – jedenfalls in meinem Fall aber vielleicht auch häufiger oder gar immer – letztlich einen Partner sucht. Er benimmt sich dann gegenüber dem Kind so, als wäre er verliebt und möchte diesen Zustand unbedingt erhalten. Aber dieser Zustand lässt nach – schließlich ist und bleibt es ein Kind. Und außerdem liebt ihn das Kind ihn nicht in der Weise, wie er das gerne hätte. Der Trick (oder auch der einzige Ausweg für den Täter) ist, dann dem Kind daran die Schuld zu geben und es mit immer neuen Anforderungen und Wünschen so umzubauen, dass es vielleicht doch noch den eigenen Wünschen gerecht werden kann. Letztlich wie in einer alten, unglücklichen Beziehung, aber mit einem ganz anderem Machtgefüge. Der Täter baut sich ein großes Lügengebäude, das mit aller Macht aufrecht erhalten muß. Gegenüber dem Kind mit Zwang und gegenüber dem Rest der Welt mit Heimlichkeit und Aufgeblasenheit. Sonst müsste der Täter einsehen, wie feige und erbärmlich es ist, dass er völlig aufgegeben hat, sich die eigenen, wirklichen Wünsche selbst erfüllen zu können, die deshalb verleugnet werden.

Das Kind (und an meine eigenen Gefühle kann ich mich noch erinnern) versteht diese ganze Situation besser als der Täter. Es begreift durchaus, dass der “Große” etwas haben möchte, was er nicht kriegt und was er darum gerne von dem Kind erhalten möchte. Und ein Kind ist so, dass es viel Liebe und Vertrauen in sich trägt, jedenfalls zu den Mitgliedern seiner Familie. Es hat ja auch keine Wahl, da es objektiv nicht in der Lage ist, sich selbst “durchzubringen”. Das Kind spielt also mit, erträgt auch die Heimlichkeit und versucht eben, für den Alten das irgendwie so gut wie möglich schön zu machen. “Und wenn er einem Wehtuhen muß, muß das viellicht so sein und am Ende hat er einen ja doch lieb.” Aber das Kind merkt auch, dass es das immer nur halb hinbekommt und es weiß nicht, dass das auch nicht anders sein kann, weil es die “Dimension Sexualität” eben bislang nur in Ansätzen kennt.

Unterm Strich gab es für mich zwei Umstände, die mir geholfen haben, da durch zu kommen: Ich hatte das große “Glück”, dass mein Großvater weit weg wohnte, so dass ich mich seinem Zugriff immer wieder entziehen konnte – vor allem innerlich – und er konnte seine “Liebe” immer wieder (in den Phasen des Abstands) “auffrischen” und dadurch gab es immer wieder auch ermutigende Situationen. Außerdem hat die Angst meines Großvaters vor Entdeckung mir ein äußerlich weitgehend normales Leben ab Einschulung ermöglicht. Ohne beides, wäre es für mich und mein psychisches und physisches Überleben sicher noch enger geworden.

Es ist sicher richtig, dass mein Onkel Eberhard ähnliches erlebt hat: Wie hätte jemand wie mein Großvater mit einem “Knaben” anders umgehen sollen, der doch noch mehr in seiner Gewalt war als ich. Es muß für den kleinen Eberhard unendlich schrecklich gewesen sein und unmöglich, da irgendwie heil heraus zu kommen. Warum kann das sein? Wenn es schon schwer erträglich ist, dass es so etwas wie meine Kindheit geben kann – kann man noch sagen, dass ich überlebt habe und dass es vielleicht für irgendetwas gut war. Aber was ist mit den Kindern, die nicht überleben und die in dieser Hoffnungslosigkeit sterben müssen?

Jemand wie ich, der da irgendwie durchgekommen ist, hat aus dem Erleben Lehren gezogen: Die beim Mißbrauch notwendigerweise vorhandene Unzufriedenheit des Täters mit der ganzen Situation, traf auf ein Kind, dass er sich abhängig gemacht hat (wie auch immer) und das den hoffnungslosen Versuch unternommen hat, immer wieder neu, diesen (für es) unerfüllbaren Wünschen zu entsprechen. Ich denke, was damals sehr gründlich in mir kaputt gegangen ist, ist der Mut bedinungslos zu vertrauen und zu lieben. Das schließt die Liebe und das Vertrauen zu mir selbst ein, weil ich Bestandteil dieses Spiels geworden bin und meine nicht lebensnotwendigen Gefühle und Wünsche immer wieder aus Todesangst unterdrückt und verraten habe. 

Wenn das so ist, ist der sexuelle Mißbrauch auch ein Mißbrauch der Gefühle des Kindes, weil ehrliche und wirkliche Gefühle der Zuneigung, Liebe und Ergebenheit böse und kalt ausgenutzt werden, um einen Trieb zu befriedigen, der dem Kind weitgehend fremd ist. Wenn der sexuelle Mißbrauch nicht das Kind selbst tötet, tötet der mit ihm verbundene Mißbrauch der Gefühle eben diese – mehr oder weniger – ab. Denn diese Gefühle sind lebensbedrohlich, wenn das Kind sie gegenüber sich selbst zulässt und werden ausgenutzt und mit Verachtung beantwortet, wenn sie gegenüber dem Erwachsenen “ausgelebt” werden. Wenn das weit geht, bleibt dem innerlich Toten später vielleicht wirklich nur der Weg, den Rest Leben auch noch zu beenden. Weil die fehlende Selbstliebe eine Heilung unmöglich macht und weil die immer wieder neu erlebten Unterschiede zu anderen Menschen, es immer wieder an die eigenen “Fehler” als Kind erinnern. Oder es versucht diese Unterschiede in eine Stärke umzumünzen und wird selbst zum Täter.  

Warum spielst Du immer das Opfer?

Die können das mit einem machen: So viel Angst vor denen, dass man alles tun würde – wirklich alles, um sie nicht zu reizen. Man unterwirft sich völlig und möchte nur noch die schreckliche Angst lindern. Man versucht dem Mächtigen alles recht zu machen und hat ständig diese Angst im Blick, im Gesicht und im ganzen Körper. Man beginnt sich selbst dafür zu verachten und der Mächtige weist einen auch manchmal darauf hin, dass man das ja alles aus mehr oder weniger freien Stücken macht. Und man ist doch nicht etwa so dumm, das nicht zu wollen, nicht wahr?

Man versucht die Wut und das System des Mächtigen immer besser zu verstehen, aus Angst das eigene Leben auf diese Art zu verlieren und einen so entsetzlich einsamen und verlorenen Tod zu sterben. Man gibt sich auf, verachtet sich, beginnt den Mächtigen zu bewundern und wünscht sich eigentlich nur, dass ein anderer Mächtiger kommen könnte und den Peiniger besiegen würde. Dem würde man sich dann noch mehr und aus noch vollerem Herzen unterwerfen.

Es ist nicht mehr das eigene Leben an das man sich klammert – das ist einem längst nichts mehr wert, weil man weiß, dass man selbst Teil des Systems geworden ist. Es ist die Angst vor dem gewaltsamen Tod, erlitten unter den größten eigenen Anstrengungen das eigene Selbst aufzugeben und dadurch völlig von sich selbst getrennt zu sein. Ein Tod voller Selbstverachtung und -hass, Traurigkeit, tiefer Unsicherheit, Schutzlosigkeit, Einsamkeit, unterdrückter Wut und ohne jemals die Chance gehabt zu haben, für etwas gut gewesen zu sein. Diese Angst vor einem verlorenen Tod, der ein dann wirklich überflüssiges Leben beenden würde, ist größer als der Wunsch nach Selbstachtung – und damit schließt sich der Kreis und die Selbstaufgabe wird noch größer.

Man verliert den Glauben ganz und gar. Den Glauben an sich selbst, der, wie ich jetzt denke, der wahre Glaube auch der Religionen ist, weil es der Glaube an das Gute und Richtige ist, das vielleicht doch in jedem von uns immer da ist. Oft ist es heute dieser Glaube, wenn ich mich auf das eigene Herz ausrichte und versuche darauf zu vertrauen, dass es das Gute und Richtige in diesem Herzen gibt, der mich durch die Angst und die vielen Unsicherheiten trägt.

Warum schreibe ich das? Weil es für jemanden, der das nicht kennt, schwer zu verstehen ist, warum das Opfer da plötzlich so mitspielt und sich nicht einfach retten lässt. Und die einfachen Schlüsse, die die daraus ziehen, die von ihrer eigenen Stärke überzeugt sind aber ihre eigene Schwäche nicht kennen, sind für mich nur schwer zu ertragen.

Aber der Punkt ist: Wenn jemand das Opfer wirklich retten will und kann, dann wird er das machen und nicht darüber nachdenken, was der Anteil des Opfers ist. Es gibt diesen Anteil, das ist nicht die Frage. Aber es ist dennoch unbeschreibliches Unrecht und das ist offensichtlich. Wenn jemand den Mut hat und die Stärke zu helfen, dann soll er helfen. Das Opfer hat den Glauben an sich selbst verloren, weil es völlig unterworfen wurde. Und das Opfer weiß das und fühlt so: Wenn jemand noch die Frage stellt, ob das Opfer nicht selbst da mitspielen will, wird seine Kraft auch nicht reichen, sich gegen den Täter zu behaupten. Denn der Täter wird um sein Opfer kämpfen und Auflehnung macht nur dann Sinn, wenn am Ende ein Sieg steht. Eine erneute Niederlage würde erneute noch stärkere Unterwerfung nach sich ziehen und die Trennung von sich selbst müsste noch größer werden.

Die große Frage ist: Warum kann das so ungerecht sein? Wo ist die Erklärung? Wo ist die Schuld des Opfers, die ja die Möglichkeit einer Rettung in sich tragen würde? Warum kann ein unschuldiges Opfer einen solchen Tod sterben müssen, ohne dass irgendetwas passiert?