Wenn die Generation meines Großvaters am Übergang von der kleinen Gesellschaft, die in kleinen untereinander nur schwach vernetzten Gemeinschaften existierte, zu der großen Gesellschaft lebte, bei der Massenkommunikationsmittel und Reisemöglichkeiten zu einem schnellen und unaufhaltsamen Kommunikationsfluss führte. Wenn das so war, war das Verhältnis des Einzelnen zu dieser neuen Gesellschaft mit Angst verbunden: Der Einzelne der dann in Konflikt mit der Geseschaft geriet, weil sie etwas das er getant hatte oder tat (zum Beispiel weil er schwul war) verurteilte, hatte nicht mehr die Möglichkeit die eigene kleine Gesellschaft zu verlassen und in einer anderen kleinen Gesellschaft Ruhe zu finden und aus seinem inneren Erleben und der äußeren Reaktion zu lernen und einen Schritt weiter zu gehen. Weder hatte der Einzelne gelernt in diesen veränderten Bedingungen zu leben, noch hatte die Gesellschaft die notwendige Tolaranz gelernt ohne die so große Organisationen wie es moderne Nationen sind, nicht funktionieren können.
Wenn das der Hintergrund war, vor dem sich individuelle Schicksale abspielten und wenn dann Großpapa im Ersten Weltkrieg an der Ostfront war und dorthin von einer größer gewordenen und sich dadurch auch stärker fühlenden Nation geschickt worden war, die an sich selbst und an die Tapferkeit ihrer Söhne glaubte; wenn dann die Realität an der Ostfront schrecklicher war, als es sich die Menschen bis dahin hatten ausmalen können, wenn die Gewalt der neuen Waffen so viel größer war, als die Kraft und Tapferkeit eines einzelnen Menschen; wenn Tapferkeit angesichts dieser Waffen eigentlich sinnlos wurde und das Selbstbild des starken, tapferen Mannes keinen Sinn mehr hatte und aus seiner Macht Ohnmacht wurde; wenn dann die Kapitulation folgerichtig war, aber die Nation, die auch die Gesellschaft war, diese Lehre nicht gezogen hatte, weil es bis dahin nichts dergleichen gegeben hatte; wenn dann die Frauen auf die heimkehrenden Männer herabsahen, weil die Familien die Heimat verlassen mußten, und die Väter auf die Söhne herabsahen, weil sie die Siege, die sie selbst errungen hatten nicht wiederholen konnten, sondern ohne Sieg heimkehrten obwohl die Nation doch so viel stärker als früher war – Wenn das alles so war, dann mußte die Kapitulation als von Fremden angezettelt angesehen werden, damit dann wieder ein Einklang mit den Frauen und Vätern erreicht wurde. Der neue Konsens bestand dann darin, dass die Kapitulation als Feigheit begriffen wurde. Derjenige, der weiter war als der Rest der Gesellschaft, weil er erleben hatte müssen, wie grausam die neue von ganz anderen Waffen und viel mächtigeren Strukturen geprägte Wirklichkeit war und wie wenig Tapferkeit angesichts dieser Kräfte bedeutete, mußte diese Erlebnisse leugnen, wenn er nicht in erneuten Konflikt mit denen, die er nicht hatte verteidigen können, geraten wollte. Es gab wohl nur wenige in “Deutschland, einig Vaterland” die damals die Kraft und gleichzeitig Weisheit hatten, diesen Konflikt auszuhalten.
Für den einzelnen vielleicht schwulen und mit sich selbst im Unreinen befindlichen jungen Mann, der nach den schrecklichen Erfahrungen an der Ostfront heimkehrte, war die Wucht mit der er auf sein Schicksal geworfen wurde, wohl zu groß, als das er hätte fähig sein können den richtigen nächsten Schritt zu tun. Die neue Gesellschaft kannte auch kein Entkommen mehr und dann unterwarf er sich eben den engen, rückwärts gewandten Ansichten der anderen, die nicht verstanden hatten, dass die alten Zusammenhänge zwischen Männlichkeit, Tapferkeit, Kraft, Ehrlichkeit und Macht keine Bedeutung mehr hatten. Damit, dass er sich ihre überkommenen Vorstellungen zu eigen machte, mußte er auch die Schuld an der Niederlage auf sich nehmen, und damit auch ihre Verachtung gegenüber ihm und seiner Angst vor der Grausamkeit der Ostfront. Er, der sich bis dahin doch eigentlich nichts hatte zuschulden kommen lassen, mußte alles oder wenigtens fast alles verraten und verleugnen, was ihn selbst ausmachte.
Ich denke, dass Großvater die Lektion schnell und voller Angst begriff, eine erneute Demütigung wollte er nicht erleben. Er akzeptierte die eigene Schuld ohne den berechtigten inneren Trotz je vollständig besiegen zu können. Die Nation wollte dann die Wiedergutmachung und im dritten Reich war er gehorsam und mit der Konsequenz desjenigen, der sich selbst vergessen möchte, in der Gemeinschaft der grausamen Täter. Einer Gemeinschaft in der es wohl viele gab, die zuvor in ähnlicher Weise Opfer geworden waren. Als auch das um war, und selbst die ganze Grausamkeit gegenüber seinem eigenen Sohn und der ganze verzweifelte Zwang nicht geholfen hatte gegen die erneute Niederlage der Nation der Väter; da war er längst viel zu weit gegangen, als dass er von einem Zurück hätte träumen können.
Er wurde dann als Mensch immer weniger in seiner dicken, leeren, traurigen, kalten Hülle, in der er sich die Welt einbildete und sich nach Berührung, Tapferkeit und Befreiung sehnte. Seiner engen und kalten Hülle, die er sich vielleicht nicht selbst auferlegt hatte, die er aber längst selbst aufrecht erhielt und aus der er nur in krampfhaft herbeigeführten ekstatischen Ergüssen mit Unschuldigen kurzzeitig ausbrechen konnte. Nur das gab ihm die Macht die alten Begriffe und Zusammenhänge für einen bis zum Orgasmus gesteigerten Moment wieder zum Leben zu erwecken und – wenn auch nur sehr kurz – endlich aus ihnen auszubrechen.