Irgendwann sagt der kleine Junge: “Ich habe genug gesehen.”
Nachdem es endlich alles vorbei war und er endlich in die Welt hinaus konnte, ohne dass einer hinter ihm her war: Ohne dass ihm der Großvater sein Leben stehlen wollte, weil er selbst keines gehabt hatte. Ohne dass ihn die Mutter dem Großvater opfern wollte, um zwanghaft böse zu sein, um die Schuld die sie sich aufgeladen hatte oder die ihr von ihrem Vater aufgeladen worden war, nicht als Schuld sehen zu müssen sondern als Verdienst. Ohne dass ihm der Vater noch einen mitgeben wollte, damit das Werk vollendet wäre und das Kind sich nicht mehr berappeln würde und die Gefahr, dass das eigene Versagen ans Licht kommen würde, für immer gebannt wäre.
Nachdem ich es endlich selbst probieren konnte – ohne die bedrohlichen Schrecken, die von überall her zu kommen schienen. Als ich endlich frei war von dem Gezeter und wenigstens äußerlich Ruhe einkehrte. Endlich selbst probieren, wie es denn wirklich war.
Nachdem ich feststellte, dass es alles noch anders war: All die guten Vorsätze, es alles ganz anders zu machen, halfen nicht. Es war einfach alles zu fremd und die verzweifelten Versuche am Steuer zu reißen, brachten nicht die grundlegende Erneuerung, die dann alles richtig machen würde. Die Vergangenheit war tief vergessen, aber wohl dennoch präsent. Es war mühsam Schritt für Schritt zu lernen und zu begreifen, wie das Leben wirklich war. Dass es nicht so gezwungen und verzweifelt wie die Eltern war, aber dass es die erträumte Rettung aus der eigenen Verzweifelung eben auch nicht gab. Es mußte alles probiert werden: Die Kehrung nach außen zu Freunden und Alkohol, die Resignation in Ziellosigkeit, der berufliche Ehrgeiz und Erfolg, die Zweisamkeit mit Frauen, schnell wechselnde Partner, eigene Kinder und schließlich die Erkenntnis, dass am Ende alles leer war. Das war der Moment als der kleine Junge sagte: “Ich habe genug gesehen,” und er fügte hinzu: “ich will gehen”.
Es folgte das Erschrecken des älteren, der die Niederlage nicht zulassen wollte und nach anderen Auswegen suchte. Aber alles argumentieren half nichts: Die Lust und die Hoffnung auf Neues war verbraucht. Wenn das Kind keinen Sinn mehr in dem bunten Treiben sehen kann, dann will es nach hause und endlich Ruhe haben und nur noch schlafen, für immer.
Dann mußte ich die Reißleine ziehen, aussteigen – wenigstens für einige Wochen. Lernen was andere für einen tun können: Einem den Rücken frei halten für einige Zeit, einem zuhören bis man selbst nicht weiter weiß, Medikamente die helfen Schlaf zu finden und ein wenig Erleichterung von der großen Angst bringen, dass das was ich gesehen hatte, wirklich schon alles gewesen sein könnte. Aber viel wichtiger war es zu lernen, dass die anderen nicht helfen können, die eigenen Erkenntnisse und Schlußfolgerungen zu ziehen. Natürlich gibt es immer die, die einem mit guten Ratschlägen zur Seite stehen wollen – so wie damals mein Großvater. Aber genau wie damals ist das immer nur Eitelkeit, die vorgibt etwas von der Wahrheit zu verstehen. Aber mein Leben hing davon ab, dass ich die richtigen Schritte wählte und ich hatte keine Zeit alles mögliche auszuprobieren. Und ich hatte schon genug gesehen um zu merken, was echt war und keinen der Strohalme ernst zu nehmen. Aber das eigentliche Problem blieb, dass die Hoffnung, dass das Leben doch noch irgendwo die Rettung und die dauerhafte Freude versteckt haben könnte, einfach sehr klein geworden war. Dass dann weiter alles leer blieb und ich nichts mehr finden konnte, mit dem ich die sinnlose Leere hätte füllen können.
Am Ende blieb mir nur ich selbst und ich begann dem Bedürfnis, das ich schon immer hatte, mich nach innen zu wenden, den Namen “Meditation” zu geben, damit es gut und richtig wäre und kein Versagen. Wenn die ganze Angst und Hoffnungslosigkeit durch den verzweifelten Versuch “dazu zu gehören” nicht mehr vertrieben werden konnte, mußte ich wohl alle Zeit, die mir dafür blieb damit zubringen, diese Angst und Hoffnungslosigkeit kennen zu lernen. Das schien mir die einzige Möglichkeit sie soweit zu besänftigen, dass sie mich nicht dann überfielen, wenn die äußeren Umstände sie noch stärker werden liessen und ich ihnen dann erst recht nicht gewachsen wäre. Das ist nun ziehmlich genau 2 Jahre her und bis heute scheint dieser Weg der richtige gewesen zu sein.
Vielleicht ist es so traurig, wie es mir damals schien: Vielleicht ist das Leben einfach nur leer und wir sind dazu geboren, zuzusehen, wie sich gute Momente ereignen, nur um dann auch erleben zu müssen, dass nach einem besonders schönen Moment der Schmerz des Verlustes umso größer ist. Vielleicht ist dieses Gefühl, dass ich schon als Kind hatte, einfach die Wahrheit des Lebens. Eine Wahrheit der ich damals sehr nahe war, aber die zu erkennen ich mir damals nicht zutraute. Zumal meine Eltern doch alle Energie darauf setzten ihr Glück auf ganz andere Weise zu finden. Eine traurige Wahrheit, mit der ich niemanden behelligen wollte, weil doch alle fröhlich sein wollten und möglichst viel Freude und Spaß haben. Eine Wahrheit, die ich deshalb beiseite legte, um vielleicht auch irgendwo da draußen dauerhaft Freude und Spaß finden zu können. Aber vielleicht wird aus dem Versuch dauerhaft Freude und Spaß zu haben, schnell eine sinnlose Anhäufung von Spaßfaktoren und ist dann ohne deren empfundenen Verlust sinnlos. Vielleicht kommen darum Taurigkeit, Schmerz, Verlust und Mangel – als notwendige Kehrseiten der Freude – der Wahrheit näher als Spaßmaximierung. Vielleicht ist es gut und richtig diese Kehrseiten des Lebens zu suchen und in aller Fülle zu erleben, weil diese auf dem Weg liegen, der zur Wahrheit führt. Vielleicht war das aus der Taurigkeit und dem Schmerz des abgewiesenen Kindes geborene Gefühl, mehr als die meisten anderen zu wissen, gar nicht so falsch wie es mir damals schien. Und vielleicht besteht am Ende sogar das Glück aus diesem Weg zu dieser Wahrheit und kann dort doch noch gefunden werden, wenn das Kreiseln zwischen Spaß und Langeweile, Gewinn und Verlust, Reichtum und Mangel, Gesundheit und Schmerz, Freude und Traurigkeit, Stärke und Schwäche endlich einen Level höher steigt.