Liebe Tanten und Onkels,
mir geht es gut – wie geht es Euch. Hier ist es sehr schön und ich bin froh, dass ich immer so getan habe, als würde ich die Geringschätzigkeit, mit der ihr mich behandelt habt, nicht merken. Ich habe immer so getan, weil ich nicht wußte, wie ich es Euch heimzahlen kann. Weil meine Eltern genau wie ihr im Bann meines Großvaters waren, dummerweise eben auch mein Vater, der komischerweise sogar irgendwie vor Euch Angst haben zu schien. Aber alle haben sich klein gemacht, gegenüber dem tyrannischen, schwulen, verwöhnten Arschloch von Großpapa mit seinem Schwanz, der viel zu dick war für den kleinen Kinderhals.
Ich habe immer versucht, erwachsen zu erscheinen und Euch alles zu verzeihen. Aber in meinem Herzen habe ich mir immer gewünscht, Ihr wäret auf meiner Seite. Auch wenn es hart kommt. Auch wenn der Großvater mich wieder schwach findet und jeden, der sich auf meine Seite stellen würde, auch schwach finden würde. Mit den ganzen Torturen und Foltereien, zu denen ein heimlicher, frustierter Schwuler mit sozialdarwinistischen Machtphantasien eben gegenüber einem wehrlosen kleinen Kind fähig ist. Ein ekeliger, alter Mann, gedeckt von seiner ganzen Sippschaft, geifernd vor, hinter und über seinem wehrlosen Opfer.
Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass irgendjemand auf meiner Seite wäre. Nur für einen Tag. Nicht, weil ich mir zu träumen gewagt hätte, dass dann alles aus sein könnte. Nur um ein wenig Frieden mit mir selbst haben zu dürfen und nicht so einsam sterben zu müssen. Ich war komplett fertig mit diesem sinnlosen Leben. Ich war nur nicht bereit und in der Lage diese Einsamkeit und Verachtung, durch alle Menschen die ich kannte, auszuhalten. Ich konnte den Gedanken einen solchen Tod erleiden zu müssen nicht aushalten. Das war alles was ich wollte: Einen schönen Tag erleben ohne Demütigungen und ich dachte, dass ich dann Ruhe geben könnte und in meinen Tod eingewilligen.
Darum, um diesen einen Tag irgendwie möglich zu machen, habe ich immer so getan, als würde ich nichts merken. Darum habe ich das alles ausgehalten: Meine Mutter, die genauso gerne wie ihr stark sein wollte, in den Augen meines Großvaters. Die uns bereits als kleine Kinder quälte, weil ihr Großpapa ganz einfach weismachen konnte, wie schwach wir wären und dass wir eine harte Hand bräuchten. Wie sehr mußte ich mich immer wieder anstrengen, Ihr zu bestätigen, dass sie recht damit hatte. Weil wir früh gemerkt hatten, dass eine so eingebildet starke Frau wie sie, es nicht erlauben kann, dass man ihr widerspricht und sonst komplett durchdreht. Dabei war sie doch so schwach und ängstlich! Wie sehr mußte ich mich anstrengen, sie da irgendwie durchzubringen, damit mein und das Überleben meiner Geschwister irgendwie ermöglicht wurde! Und dabei hat mir, dem Schwachen, niemand – außer meinen Schwestern – geholfen: Nicht Ihr und nicht mein Vater.
Und mit Euch hat Großpapa doch das gleiche Spiel gespielt: Wer den kleinen Dietrich verteidigt ist schwach! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass Ihr auf meiner Seite wäret und dass Ihr mir helft, diesen einen Tag zu erleben. Aber für Euch waren meine Versuche, Euch irgendwie doch noch für mich zu gewinnen und an Eure Menschlichkeit zu appelieren, immer nur ein Zeichen meiner Schwäche.
Ich habe das dritte bis sechste Jahr meiner Kindheit damit zugebracht, mir jeden Tag aufs neue den Kopf darüber zu zuermartern, wo mein Fehler ist und ich habe nichts, nichts unversucht gelassen, da irgendwas dran zu drehen, dass das aufhört. Dabei sind sicherlich oft wirre Aktionen heraus gekommen. Aber das Spiel, dessen Regeln ich zu dumm war zu begreifen ging so: Der Großpapa schlägt und alle sehen zu und schlagen ein bischen mit. Wenn er sich wehrt, ist das nur ein Zeichen, dass er seine Schwäche nicht einsehen kann und er muß noch besser dressiert werden. Wenn er weint und um Hilfe bittet, seht Ihr ja wie schwach er ist. Das Resultat ist das gleiche, weil er doch gestählt werden muß und weil er zu dumm ist das Spiel zu verstehen. Und wenn er gar nichts tut, ist es noch am besten und dann ist ein bischen Ruhe. Aber dann muß er auch einsehen, dass er schwach ist, weil der doch verloren hat. Die Frage an Euch ist: Ist er wirklich der Verlierer in diesem Spiel? Dass er so unendlich traurig ist und nicht verstehen kann, wie es auf der Erde solche Spiele geben kann, deutet darauf hin, nicht wahr? Dass er sich fragen muß, wie es in einer Welt, die doch ihn selbst hervorgebracht hat, solche Erlebnisse geben kann, das muß doch ein Zeichen von Schwäche sein. Nicht wahr?
Ich habe das damals auch selbst als Schwäche empfunden, dass ich da auch noch selbst mitspiele und immer wieder nach einem Ausweg suche. Aber der einzige Ausweg, der mir einfiel war der Tod. Und eigentlich wollte ich auch in einer Welt, die so anders ist als ich selbst, nicht weiter leben. Hätte ich mein junges Leben also wirklich beenden sollen? So sterben? Ohne dass einer auf meiner Seite ist? Aber wozu dieser Tod? Wäre ich dann endlich stark gewesen? Hätte einer von Euch dann gesagt: “Oh hoppla, der war ja doch nicht so schwach. Haben wir uns wohl getäuscht.”? Wenn ich daran hätte glauben können, hätte ich vielleicht einen Weg gefunden, das alles zu beenden und könnte das heute nicht mehr schreiben. Aber ich wußte, dass Ihr das nicht gesagt hättet, sondern: “Tja, Großvater hat es ja immer gesagt.”
Ich hasse Euch, ich hasse Euch, ich hasse Euch und ein Teil von mir wird Euch immer hassen. Dafür, dass da keiner den Mund aufgemacht hat, als mich Großpapa vor Euren Augen gedemütigt hat. Dass Ihr Euch zu ihm an den Tisch gesetzt habt und nicht zu dem kleinen, hilflosen Jungen an seinem Extratisch. Wofür? Wer von Euch steht denn jetzt auf einem Denkmal, zusammen mit Großpapa und als Beweis für Eure Stärke? Und für diese überlegene Ideologie, die das Schwache ausmärzen möchte, und die doch dann als erstes selbst ausgemärzt werden müsste. Wenn Ihr Recht hättet, wäre das ganze Leben doch nur eine lächerliche Marionettenveranstaltung – aber vermutlich ist es genau das, was Ihr unter Leben versteht. Und für Marionetten ist das ja wahrscheinlich auch die einzige Art von Leben die sie kennen.
Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie mir schlecht ist bei den Erinnerungen und ich kann gar nicht so viel heulen, wie mich dieser ganze widerwärtige Quatsch traurig macht.
Wer gab und gibt Euch nur das Recht, Euch so über andere Menschen zu stellen? Wer gab Euch nur das Recht, die Scham, die doch bei Euch sein sollte, dem kleinen, vierjährigen Kind aufzutischen? Eure eigene, kleine Angst davor selbst herabgewürdigt zu werden? Dann kann ich nur sagen, dass Euch niemand mehr herabwürdigen kann, als ihr es selbst in diesem Moment tatet. Oder einfach nur Großpapa mit seiner eingebildeten Stärke und seinen Träumereien von der starken Rasse? Aber warum habt ihr das dem geistig klein gebliebenen Familientyrannen geglaubt? Dass er weiß, wie das geht mit der starken Rasse und wer stark und wer schwach ist? Weil er im 3. Reich und danach soundso viele Menschen inklusive seiner eigenen Kinder und fast auch Enkelkinder auf dem Gewissen hat? Ist das Eure starke Rasse? Kann eine Lehre, bei der diejenigen, die sich Stärke anmaßen und draus das Recht ableiten andere zu quälen stark sein? Habt Ihr das wirklich geglaubt? Also was dann? Und sagt jetzt nicht wieder, dass ihr das ja alles nicht wußtet – ihr wußtet nicht alles aber Ihr wußtet genug.
Ich denke, dass Ihr nicht daran vorbei kommt, darauf eine Antwort zu finden. Meine Eltern konnten es nicht.
Viele Grüße auch an Euren Tod, – und vor allem: Nicht schwach werden! Nicht wahr?
Dietrich
PS: Ich weiß, dass zwei von Euch Älteren zweimal “heimlich” auf meiner Seite waren. Ihr glaubt nicht, wie wichtig das für mich war und wieviele Wochen mich das wieder weiter getragen hat. Aber es war nicht genug.