Wenn ich bei Großpapa ankam, ging es immer erst so los, dass er mich gut fand und lobte. Aber dann fing er nach einem Tag oder so an, an allem was ich tat etwas auszusetzen und mich immer kleiner zu machen. Ich gab mir ungeheure Mühe, alles oder wenigstens irgendetwas richtig zu machen, aber es gelang mir einfach nicht. Ich konnte einfach nicht “stark” sein, immer war irgendetwas falsch. Aber wenn ich dann weg war und wieder kam, war er denke ich ehrlich davon überzeugt, dass er einen guten, kleinen Mann aus mir gemacht hatte. Er war angetan davon, dass ich wieder da war und verklärte mich wohl auch. Aber dann konnte ich nach kurzer Zeit seinen Ansprüchen wieder nicht gerecht werden und das war dann natürlich meine Schuld und dann ging das ganze Theater und meine große Hilflosigkeit und Traurigkeit wieder von vorne los. Ich war einfach nicht in der Lage, den Sinn in diesem Hin und Her zu verstehen und habe das als meine eigene Unfähigket anerkannt. Das war die einzige Chance, es vielleicht irgendwann doch noch verstehen zu können und eine Lösung zu finden.
Ich habe immer mehr das Gefühl, dass der Täter – jedenfalls in meinem Fall aber vielleicht auch häufiger oder gar immer – letztlich einen Partner sucht. Er benimmt sich dann gegenüber dem Kind so, als wäre er verliebt und möchte diesen Zustand unbedingt erhalten. Aber dieser Zustand lässt nach – schließlich ist und bleibt es ein Kind. Und außerdem liebt ihn das Kind ihn nicht in der Weise, wie er das gerne hätte. Der Trick (oder auch der einzige Ausweg für den Täter) ist, dann dem Kind daran die Schuld zu geben und es mit immer neuen Anforderungen und Wünschen so umzubauen, dass es vielleicht doch noch den eigenen Wünschen gerecht werden kann. Letztlich wie in einer alten, unglücklichen Beziehung, aber mit einem ganz anderem Machtgefüge. Der Täter baut sich ein großes Lügengebäude, das mit aller Macht aufrecht erhalten muß. Gegenüber dem Kind mit Zwang und gegenüber dem Rest der Welt mit Heimlichkeit und Aufgeblasenheit. Sonst müsste der Täter einsehen, wie feige und erbärmlich es ist, dass er völlig aufgegeben hat, sich die eigenen, wirklichen Wünsche selbst erfüllen zu können, die deshalb verleugnet werden.
Das Kind (und an meine eigenen Gefühle kann ich mich noch erinnern) versteht diese ganze Situation besser als der Täter. Es begreift durchaus, dass der “Große” etwas haben möchte, was er nicht kriegt und was er darum gerne von dem Kind erhalten möchte. Und ein Kind ist so, dass es viel Liebe und Vertrauen in sich trägt, jedenfalls zu den Mitgliedern seiner Familie. Es hat ja auch keine Wahl, da es objektiv nicht in der Lage ist, sich selbst “durchzubringen”. Das Kind spielt also mit, erträgt auch die Heimlichkeit und versucht eben, für den Alten das irgendwie so gut wie möglich schön zu machen. “Und wenn er einem Wehtuhen muß, muß das viellicht so sein und am Ende hat er einen ja doch lieb.” Aber das Kind merkt auch, dass es das immer nur halb hinbekommt und es weiß nicht, dass das auch nicht anders sein kann, weil es die “Dimension Sexualität” eben bislang nur in Ansätzen kennt.
Unterm Strich gab es für mich zwei Umstände, die mir geholfen haben, da durch zu kommen: Ich hatte das große “Glück”, dass mein Großvater weit weg wohnte, so dass ich mich seinem Zugriff immer wieder entziehen konnte – vor allem innerlich – und er konnte seine “Liebe” immer wieder (in den Phasen des Abstands) “auffrischen” und dadurch gab es immer wieder auch ermutigende Situationen. Außerdem hat die Angst meines Großvaters vor Entdeckung mir ein äußerlich weitgehend normales Leben ab Einschulung ermöglicht. Ohne beides, wäre es für mich und mein psychisches und physisches Überleben sicher noch enger geworden.
Es ist sicher richtig, dass mein Onkel Eberhard ähnliches erlebt hat: Wie hätte jemand wie mein Großvater mit einem “Knaben” anders umgehen sollen, der doch noch mehr in seiner Gewalt war als ich. Es muß für den kleinen Eberhard unendlich schrecklich gewesen sein und unmöglich, da irgendwie heil heraus zu kommen. Warum kann das sein? Wenn es schon schwer erträglich ist, dass es so etwas wie meine Kindheit geben kann – kann man noch sagen, dass ich überlebt habe und dass es vielleicht für irgendetwas gut war. Aber was ist mit den Kindern, die nicht überleben und die in dieser Hoffnungslosigkeit sterben müssen?
Jemand wie ich, der da irgendwie durchgekommen ist, hat aus dem Erleben Lehren gezogen: Die beim Mißbrauch notwendigerweise vorhandene Unzufriedenheit des Täters mit der ganzen Situation, traf auf ein Kind, dass er sich abhängig gemacht hat (wie auch immer) und das den hoffnungslosen Versuch unternommen hat, immer wieder neu, diesen (für es) unerfüllbaren Wünschen zu entsprechen. Ich denke, was damals sehr gründlich in mir kaputt gegangen ist, ist der Mut bedinungslos zu vertrauen und zu lieben. Das schließt die Liebe und das Vertrauen zu mir selbst ein, weil ich Bestandteil dieses Spiels geworden bin und meine nicht lebensnotwendigen Gefühle und Wünsche immer wieder aus Todesangst unterdrückt und verraten habe.
Wenn das so ist, ist der sexuelle Mißbrauch auch ein Mißbrauch der Gefühle des Kindes, weil ehrliche und wirkliche Gefühle der Zuneigung, Liebe und Ergebenheit böse und kalt ausgenutzt werden, um einen Trieb zu befriedigen, der dem Kind weitgehend fremd ist. Wenn der sexuelle Mißbrauch nicht das Kind selbst tötet, tötet der mit ihm verbundene Mißbrauch der Gefühle eben diese – mehr oder weniger – ab. Denn diese Gefühle sind lebensbedrohlich, wenn das Kind sie gegenüber sich selbst zulässt und werden ausgenutzt und mit Verachtung beantwortet, wenn sie gegenüber dem Erwachsenen “ausgelebt” werden. Wenn das weit geht, bleibt dem innerlich Toten später vielleicht wirklich nur der Weg, den Rest Leben auch noch zu beenden. Weil die fehlende Selbstliebe eine Heilung unmöglich macht und weil die immer wieder neu erlebten Unterschiede zu anderen Menschen, es immer wieder an die eigenen “Fehler” als Kind erinnern. Oder es versucht diese Unterschiede in eine Stärke umzumünzen und wird selbst zum Täter.